Woche 11: Air, Sexy Boy

James Webb vs. Jim Beam. Attraktive Menschen sind erfolgreicher. Was macht eigentlich Jeremy Meeks?

Es ist kalt und dunkel, da draußen am zweiten Lagrange-Punkt.  1,5 Millionen Kilometer von der Erde entfernt kreist das James Webb-Weltraumteleskop in immer gleicher Entfernung zur Erde mit ihr um die Sonne. Etwa viermal weiter entfernt als der Mond , immer auf unserer Nachtseite. Das Teleskop ist unterwegs, um die ersten Sterne und Galaxien, die nach dem Urknall entstanden sind, zu suchen. Herauszufinden, wie sich Galaxien von ihrer Entstehung an bis heute entwickelt haben. Und zu messen, ob die physikalischen und chemischen Eigenschaften von entfernten Planetensystemen menschliches Leben dort möglich machen. Klingt wie Science Fiction, ist aber nur Science. Zeitgenössische Wissenschaft.

Das erste Bild des James Webb-Teleskops wurde im Juli 2022 der Öffentlichkeit vorgestellt: Es zeigt den Galaxienhaufen SMACS 0723 im Sternbild Fliegender Fisch. Sein Licht benötigte rund 4,6 Milliarden Jahre, bis es den 25 Quadratmeter großen Spiegel des Teleskops erreichte. Die Entfaltung des Spiegels, der aus 18 sechseckigen Segmenten besteht, war übrigens eine der schwierigsten Aufgaben des ganzen Unterfangens. Und Ihr berechnet jetzt bitte die Oberfläche jedes einzelnen Sechsecks und die mögliche Anzahl der verschiedenen Zusammensteck-Varianten. In sechs Wochen habe ich die Klausuren dann auch schon korrigiert und die Besten unter Euch werden auch mal Wissenschaftler:innen und entdecken noch tollere Sachen. Für heute fase ich den Stand der Wissenschaft mal so zusammen:  Mit einem Fernrohr, das 1,5 Millionen Kilometer weit weg ist, schauen wir Milliarden von Lichtjahre weit in Richtung Urknall.

Aha. Wenn die Wissenschaft jetzt soo schlau ist, dann sage mir doch mal bitte jemand, wie man die Folgen von ein kleines bisschen übermäßigem Alkoholkonsum bekämpft. Ich frage für einen Freund… Spaß, es gibt keinen aktuellen Anlass. Es gibt nur die „Sendung mit der Maus“-eske Frage: Was passiert eigentlich im Körper bei einem Kater? Recherchen dieses kleinen Investigativ-Podcasts haben ergeben: Die Wissenschaft ist noch nicht so weit. Die Details des Körpergeschehens bleiben nebulös wie die kleine Sagittariuswolke im Sternbild Schütze. Im umfangreichen Standardwerk »The Pathology of Hangover« aus dem Jahr 2010 beschweren sich die Autoren schon in der Einleitung, dass das Phänomen von der wissenschaftlichen Gemeinschaft bemerkenswert wenig beachtet werde. So fehle schon ein verlässliches theoretisches Modell, das die Pathologie des Alkoholkaters erklärt. Und natürlich auch ein ein wirksames Gegenmittel. Die Alcohol Hangover Research Group (kurz: AHRG) schreibt in ihrem Bericht zum Treffen im Jahr 2017: »Trotz der Häufigkeit und etlicher negativer Effekte des Katers – darunter enorme wirtschaftliche Auswirkungen in dreistelliger Milliardenhöhe pro Jahr allein in den USA –  wurden nur unzureichende Forschungsarbeiten zum Thema durchgeführt.«

Immerhin gibt es Untersuchungen, die darauf hinweisen, das bspw. Bourbon dem Körper stärker zusetzt als Wodka. Ursächlich hierfür sind die sogenannten Kongeneren – Nebenprodukte, die während der Destillation des Alkohols entstehen und die in Bourbon Whiskeys wie Jim Beam in 37-fach höherer Konzentration vorhanden sind als im Wodka von der Tanke. Das aber nur am Rande. Wir halten fest: Totz der vielfältigen sozioökonomischen Folgen und im Gegensatz zu vielen anderen, weniger stark verbreiteten medizinischen Beschwerden erhalte der Alkoholkater sehr wenig wissenschaftliche Aufmerksamkeit. Sagen Wissenschaftler.

Was hat das Ganze mit der französischen Elektronik-Combo Air und ihrem Song „Sexy Boy“ zu tun? Eine ganze Menge. „Sexy Boy“ ist auf dem Album „Moon Safari“ und hier schwingt die kindliche Fantasie sich empor zu dem leuchtenden Gestirn, zu „Peterchens Mondfahrt“ und wir begleiten Peterchen und seine Schwester Anneliese auf ihrer Reise zum Mond, um das verlorene Maikäfer-Beinchen vom grimmigen Mondmann wiederzuholen. Per Schlitten über die Milchstraße und auf dem Rücken des Großen Bären reitend bis zum Mondberg mit der Mondkanone. Auf dem Mond begegnen wir zauberhaften Geschöpfen wie der Nachtfee, der Blitzhexe, dem Sturmriesen und dem Regenfritz. Die haben sich wohl versteckt, jedenfalls hat das James Webb-Teleskop sie bisher noch nicht entdeckt.

In echt ist eine Safari auf dem Mond vermutlich wenig zauberhaft, sondern eher eine holprige Fahrt in einem umkomfortablen Gefährt durch eine graue Ödnis. Man kann diesen Gegensatz zwischen märchenhafter Reise und anstrengendem Gezuckel durch Staub durchaus als Sinnbild auf den Rausch der Nacht und den Kater danach verstehen. Sowas ähnliches hatte wohl auch das Far Out Magazine im Sinn, als es „Moon Safari“ zu einem der 10 besten „Hangover Cure Albums“ kürte. Die Begründung: „If, on a hangover, you want something uplifting and otherworldly, then look no further.“ Da ist was dran, der Song hat so was Außerweltlich-Ätherisches und wer mag, kann ein bisschen David Bowie reinhören, der war ja auch nicht komplett von dieser Welt, sondern wie so viele großartige Musiker aus Großbritannien. Und mit einem Schuss britischer Selbstironie lässt sich „Sexy Boy“ auch als Anspielung darauf verstehen, wie sich Alkoholkonsum auf die Wahrnehmung der eigenen Strahlkraft bzw. die der Physiognomie des Gegenübers auswirkt. Gibt es dazu eigentlich wissenschaftliche Studien? Also darüber, wie sich das Empfinden der Attraktivität – der eigenen und der fremden – bei Alkoholkonsum verändert?

Stichwort Attraktivität: Ist so oder so etwas zutiefst Subjektives. Aber mit großen objektiven Auswirkungen: Als gutaussehend wahrgenommene Menschen werden als sympathischer eingeschätzt, haben besser bezahlte Jobs und mehr von dem, was quantifizierbar als Erfolg eingestuft wird. In den eher sparsamen Lyrics von „Sexy Boy“ fragen die Künstler sich und uns:

Où sont tes héros
Aux corps d’athlète?
Où sont tes idoles
Mal rasés, bien habillés?

Frei übersetzt:

Wo sind Deine Helden
mit dem Körper eines Athleten?
Wo sind Deine Idole,
schlecht rasiert, gut gekleidet?

Athletischer Körper, stilvolles Outfit, das bewirkt in uns allen etwas. Wissenschaftlich: Wir fallen alle auf den „Halo-Effekt“ herein. Ohne es zu merken, urteilen wir über den Charakter einer Person auf Basis ihres Aussehens. Verschiedene Experimente haben gezeigt, dass wir attraktive Menschen als sozial verträglicher wahrnehmen, als mental gesünder, intelligenter und sozial intelligenter als jene, die nicht so hübsch sind. Sagt jedenfalls Business Insider Deutschland, mit Blick auf die USA. Auf Deutschland übertragbar seien amerikanische Ergebnisse jedoch nicht, sagt die FAZ. „Die Situation ist hier eine andere.“ Es gebe Tarifverträge, Gleichstellungsbeauftragte und in vielen Fällen auch Betriebsräte, die bei Einstellungsgesprächen dabei seien. Ja, zum Glück, möchte man da ausrufen!

Wer sicher nicht bei einem Betriebsratsgespräch dabei war, ist Jeremy Meeks. Jeremy Wer? Ich beschreibe ihn mal: Wer ihm ins Antlitz blickt, schaut in huskyblaue Augen rechts und links einer ungewöhnlich geraden Nase über vollen, fast zu weich anmutenden Lippen und erinnert sich (hoffentlich) an das Internetphänomen aus dem Jahr 2014. Jeremy Meeks ist der Kandidat, der als 18-Jähriger erstmals straffällig wurde, später Mitglied bei den Crips war und Anfang 2014 festgenommen wurde. Sein „mugshot“ (also das Foto eines Straftäters, das unmittelbar nach der Verhaftung im Zuge der erkennungsdienstlichen Behandlung aufgenommen wird) wurde von der kalifornischen Polizei ins Netz gestellt und sorgte dann bei ungefähr 98% der an jungen, gutaussendenden Männern interessierten Menschen  in der westlichen Hemisphäre, männlich wie weiblich, für unruhigen Schlaf.

Und jetzt der Refrain von Air:

Sexy boy
Sexy boy

Das kann man gefahrlos so sagen. Der Rest ist Geschichte: Aus der Haft entlassen, unterschreibt Jeremy diverse Model-Verträge, läuft in New York, Mailand usw. und posiert zusammen mit Supermodel Bar Refaeli. Wir erinnern uns: Bar Refaeli war mal mit Leonardo DiCaprio zusammen, nachdem sie sich auf einer Party getroffen hatten, die von den Jungs von U2 geschmissen wurde. So viel Attraktivität! Nach zehn Jahren Ehe verließ Jeremy Meeks dann seine Ehefrau und bekam mit der Tochter eines britischen Milliardärs ein Kind. Inzwischen sind auch die beiden aber wohl wieder getrennt und waren zuletzt dabei, ihr gemeinsames Zuhause in London zu verkaufen. Und was meint Air dazu?

Dans leurs yeux des dollars
Dans leurs sourires des diamants

[Dollar(zeichen) in den Augen
Ein Lächeln voller Diamanten]

Air hat das alles in  wenigen Zeilen erfasst, noch bevor die Welt von Jeremy Meeks erfuhr. In diesem gefälligen, nicht zu anspruchsvollen Song „Sexy Boy“  werden Fragen aufgeworfen: Ja, wo sind sie denn, die Helden in den Athletenkörpern und die gut gekleideten Idole? Der Song gibt die Antworten aber nicht. Ist auch egal. Manchmal muss man nicht allem auf den Grund gehen. In einem Kunstwerk ist ab und an die Botschaft so formvollendet reduziert, die Lyrics gleichsam zu einem Destillat von Form und Inhalt geworden, dass es dahinstehen kann, ob ein Denkprozess oder eine Aussage dahinterstehen. Vielleicht ist sogar nichts dahinter, wie so hinter mancher Fassade, sei sie nun schön oder nicht. Freuen wir uns doch mal an der  Oberfläche, bei Liedern und Menschen! Weil es schön ist. Hier sind Air mit „Sexy Boy“ und gleich danach eine unbedingte Musikempfehlung, die ein wirksames Rezept gegen den Alkoholkater enthält.

Ein kleiner Tipp von Ihrem Gesundheitsmagazin Praxis ganz am Ende, verpackt in eine unbedingte Hörempfehlung: Am besten vermeidet man die unliebsamen Folgen von Alkoholkonsum durch präventiven Verzicht. Das beantwortet die skandalös offene wissenschaftliche Frage aus dieser Folge zwar nicht, macht aber auch keine Kopfschmerzen. In diesem Sinne sind hier Illegal 2001 mit „Nie wieder Alkohol“. Bleiben Sie gesund – bis zum nächsten Mal.

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