Woche 13: Die Crackers, Phonhaus

Das Adjektiv als stilistisches Mittel zur Emphase. Vom Einzählen bis Vier. Eine Aktualisierung.

Liebe Hermeneutikerinnen, liebe Hermeneutiker,

in unserer kleinen Reihe „Hermeneutik hessischer Harmonie-Heroen“ begeben wir uns heute auf einen Streifzug durch das Frühwerk einer Gruppierung, deren Bedeutung bisher in der Sprachwissenschaft und der Musikhistorie nicht ausreichend gewürdigt wird. Nicht nur, dass das Ensemble eine überragende Rolle in ihrem originär geographisch begrenzten Wirkkreis im populär-kulturellen Segment der Unterhaltungsmusik innehatte. Zu ihrer Zeit, einem Damals, das heute mehr denn je gefühlt in unbestimmter Ferne liegt, das uns aber stets nah geblieben ist, hat sie den Sprachgebrauch und damit das Denken der späten Bonner Republik nachhaltig geprägt. Wir werden uns heute – aus der Perspektive einer vergangenen Gegenwart heraus – nur mit einzelnen Aspekten des in lyrische Form gegossenen Gedankenguts befassen können. Letztlich nähern wir uns aber in diesem Fragment der gleichsam darin manifestierten Weltanschauung, der Haltung und dem Wirkkreis  der unbestritten größten Band, die Wiesbaden jemals hervorgebracht hat: Den gefeierten, einzigartigen und unvergleichlichen „Crackers“.

1981 erscheint ihr Erstlingswerk „BRDigung“. Orthographisch und politisch inkorrekt schreibt die Band den Titel mit drei Großbuchstaben  B, R und D. Das Spiel mit den Buchstaben BRD und dem Klang des Wortes „Beerdigung“ lässt sich hier nur unzureichend nachzeichnen. Ein Bild sagt da mehr als tausend Worte: Das Cover ziert eine elektrische Gitarre, deren Korpus die Umrisse der Bundesrepublik Deutschland bis 1990 nachzeichnet. Albumtitel und Cover lassen in der Gesamtschau auf eine unbequeme, vergleichsweise unangepasste Haltung zu den Verhältnissen des neu beginnenden und aus heutiger Sicht immer wieder verklärten Jahrzehnts der 80er schließen. Ein wichtiger Hinweis für die Einordnung des Oeuvres.

Der auf dem Album enthaltene und darüber hinaus als Single-Auskopplung auf Kleinschallplatte mit 45 RPM veröffentlichte Track „Phonhaus“ soll uns heute als Grundlage für die Interpretation und das Verstehen sowohl der textlichen als auch der musikalischen Ausgestaltung dienen. Schließlich ist nicht nur in Texte, sondern in alle menschlichen Schöpfungen Sinn eingegangen und diesen herauszulesen, ist die uns gestellte hermeneutische Aufgabe. Beginnen wir chronologisch mit dem Anfang des Liedtextes:

Er tut den Stecker rein und alle Knöpfe auf 10 dann kann die tierische Post abgeh’n. Und dann denkst Du, jetzt ist es endlich vorbei, dann zählt er wieder an und das geht: 2 – 3 – 4.

Schon an Anfang werden die Zuhörenden mit Widersprüchen konfrontiert, die aufrütteln. Entgegen der sehr frühzeitigen Erwähnung des „Steckers“ und der „Knöpfe“, die der Musikkenner mit der elektrischen Verstärkung eines Instruments gleichsetzt, wird diese erste Strophe des Songs a capella dargebracht. Ein raffinierter, gleichsam subtiler Kniff des Komponisten und Texters Johannes Malolepssy: Er schafft damit eine Erwartungshaltung, die erst nach dem Einzählen „2-3-4“ von der kraftvoll einsetzenden Stromgitarre aufgegriffen wird. Hier erfüllt sich die Ankündigung  „auf 10“, mit der maximale Lautstärke signalisiert wird. Handelsübliche Gitarrenverstärker weisen 10 als maximale Regelung für die Lautstärke auf, lediglich die Marshall-Boxen der etwas später am musikalischen Horizont auftauchenden Berliner Band „Die Ärzte“ gehen – nach eigenem Bekunden im Liedtext von „Gute Zeit“ – bis 11, was aber zum einen eine Anleihe bei Spinal Tap ist und zum anderen getrost als persiflierende Übertreibung kategorisiert werden kann. Im weiten Musiksegments der Rockmusik taucht das Motiv der maximal bis 10 aufgedrehten Verstärker u.a. bei den stilistisch sich stark unterscheidenden amerikanischen Heavy Metal-Legenden von Manowar – etwa in deren Opus „All men play on ten“–  immer wieder auf.

Die Phrase „Die Post abgeh’n“ war im damaligen Sprachgebrauch eine übliche Formulierung innerhalb der Jugendsprache für ungewöhnliche und emotional stark mitreißende Erlebnisse. Die Redewendung stammt aus der Zeit, in der das Postwesen reformiert wurde – aus dem 15. Jahrhundert. Im Auftrag des späteren Kaisers Maximilian wurde das erste europaweite Transportsystem von Nachrichten und Briefen erdacht, mit Kutschen und Reitern, die in Stafetten mit regelmäßigen Pferdewechseln auf neuen Routen rasend schnell unterwegs waren. Da ging es hoch her und das soll es auf Parties ja auch. Dass  „die Post abgeht“ wird hier noch gesteigert durch die Verwendung des Adjektivs „tierisch“. Was aber nicht im Sinne von „animalisch“ zu verstehen ist, sondern lediglich  als stilistisches Mittel zur Emphase, zur Unterstreichung der „abgehenden Post“ eingeordnet werden kann.

Weniger erklärungsbedürftig: „Zwo – Drei – Vier“. Es ist das in der Rockmusik charakteristische Einzählen eines Vier-Vierteltakts mit Eins – Zwei – Drei – Vier. Hier zunächst unter Auslassen der 1, im weiteren Verlauf des Liedes wird die 1 dann hinzugenommen. Bei Live-Auftritten endete das Einzählen häufig erst weit jenseits der Vier, etwa bei der Sieben oder der Acht, gern zum Ende des Songs. Häufig übernimmt der Frontmann die Funktion des Einzählens, die mit der rhythmischen Zählweise den Anfang und den Takt des Liedes vorgibt. Geradezu rituell zelebriertes Einzählen – im Englischen als „One – Two – Three – Four“ findet man etwa im Gesamtwerk von Bruce Springsteen und der E-Street-Band oder bei den Ramones; im Song „Phonhaus“ übernimmt Crackers-Sänger Lothar „Loti“ Pohl diese Funktion.

Nun zur ersten Strophe:

Er war noch ganz klein, da kam ein Engel heran, der sagte „Phonhaus sei Dein Name, wenn Du bist ein Mann. Deine Flitzefinger, die spielen sehr schön, doch am besten können sie lauter dreh´n.

Phon ist, wer wüsste das aus dem Physikunterricht der siebten Klasse nicht mehr, die Maßeinheit für die Tonstärke. Stephan Ohnhaus ist der Gitarrist der „Crackers“. Der Songtitel „Phonhaus“ ist die Kombination aus physikalischer Maßeinheit und Nachnamen und  symbolisiert einen starken Bezug zur Lautstärke. Bis heute ist in der Forschung umstritten, ob diese Neigung zum „lauter dreh´n“ nur auf den besungenen Stephan Ohnhaus zutraf oder die gesamte Band betraf. Dies kann hier jedoch dahinstehen, da Stephan Ohnhaus ein ausgesprochen virtuoser Gitarrist ist und die aufkommende brachiale Anmutung der reinen Fixierung auf Dezibelzahlen durch sein Spiel gebrochen wird.

Diese Virtuosität wird in der Überlieferung als Gabe eines höheren Wesens, welche mit Eintritt in das Mannesalter zur Entfaltung kommt, gesehen. Ob es bei dem Zusatz „wenn Du bist ein Mann“ um eine aufschiebende Bedingung des Alters oder der Männlichkeit geht, wird inzwischen weniger diskutiert als die Frage nach diesem höheren Wesen und der Beschaffenheit seiner Gaben. Die Crackers legen dazu in der zweiten Strophe nach:

Als die da oben hörten, was da abging, schickten sie den Flattermann grad wieder hin. „Bring‘ das wieder in Ordnung“ sagten sie ihm nett, sonst nehmen wir Dir den Flugschein weg.

Hier findet die Band eine andere als die herkömmliche textliche Umschreibung von Engel. Diese geflügelten Boten, diese immateriellen Wesen aus reiner Form werden gewöhnlich nicht als „Flattermann“ betitelt. Die saloppe Formulierung signalisiert Rebellion, Auflehnung gegen starre Formen, strenge Hierarchien und eine bestehende Ordnung in „Oben“ und „Unten“. Deren Existenz wird aber nicht grundsätzlich in Frage gestellt. Und die Drohung, bei Zuwiderhandeln werde man dem Engel „den Flugschein“ wegnehmen, wirkt geradezu alttestamentarisch.

Die darauffolgende musikalische „Bridge“ baut auch inhaltlich eine Brücke der Hoffnung:

Wie immer hört der Mensch nie auf die Stimme des Herrn und Phoni sprach zum Engel „Ich phön aber gern“. Darauf sagte dieser nur: „Mach was Du willst, doch zur Strafe nur in A-Dur.“

Das kennt man aus Genesis. Aus Genesis, dem ersten Buch der Bibel, nicht von Genesis, der Band. Der Engel gesteht dem Menschen seinen (freien) Willen zu. Der Mensch hört nicht auf die Stimme des Herrn und greift zum Apfel bzw. zum Lautstärkeregler. Und die Konsequenz? Raus aus dem Paradies, rein in A-Dur. Der Grundton von A-Dur ist übrigens – A. Jenes A, das bei so vielen Crackers-Konzerten gemeinsam gesungen wurde: Hansi gibt den Ton vor, Loti stimmt an und dann singen alle mit. Und hier verlassen wir den ursprünglichen Text, der 2018 entstand und damals mit dem flammenden Appell endete: „Crackers-Konzert – JETZT!“ Zum Glück haben die Crackers seitdem wieder Konzerte gegeben, sogar viele.

Und dann ist letzten Monat Lothar „Loti“ Pohl völlig überraschend verstorben.  „Die Ära Crackers ist nun zu Ende.“ Ich habe keine andere Band öfter gesehen: In Festzelten in Wiesbadener Vororten, im Tattersall oder beim Konzert zum 40. Bandgeburtstag 2019 auf dem Gelände der Gibber Kerb. Das war mein letztes Crackers-Konzert. Und zum Schluss haben wir, wie bei so vielen Konzerten vorher, „Nehmt Abschied Brüder“ gesungen. Jetzt müssen wir das tun. Mir fehlen dafür die Worte, deswegen leihe ich mir die von Gabriel Garcia Márquez: „Weine nicht, weil es vorbei ist, sondern lächle, weil es sich zugetragen hat.“ Und dann wieder „Stecker rein und alle Knöpfe auf 10“.

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