Woche 12: Umberto Tozzi, Gloria

Abends in der Strandbar. Wie und wo geht die Sonne auf? Heute in der Bastelecke: Pappe und Papier.

Es wird Abend an der Lagune. Ich sitze in der kleinen Strandbar. Strandbar ist vielleicht zu viel gesagt, es ist eher nur ein Tresen, der aus verwittertem Treibholz roh zusammengezimmert ist. Auf ausgebleichten Bohlen stehen lose ein paar Stühle herum, darüber ist grob gewirktes Segeltuch gegen die Sonne aufgespannt. Die Planken fühlen sich ganz weich unter den Füßen an. Die noch warme Luft riecht nach Seegras und Salz. Über mir dreht eine Möwe ihre Runden.

Ich genieße die letzten Momente der Ruhe. Schräg hinter mir baut einer sein Equipment auf. Keyboard, Boxenständer, Boxen, Mikro, alles am Start. Denn gleich ist hier nicht mehr „Abend an der Lagune“, gleich ist hier Entertainment vom allerfeinsten. Das Beste aus sechzig Jahren Italo Pop. Mit der Bontempi-Orgel und der geübten Stimme des Alleinunterhalters. Das ist es doch, was die Touristen wollen. Bei den ersten Klängen der Lieder, die von der Suche nach dem Sommer und der Liebsten, die schon zum Strand aufgebrochen ist, handeln, erwische ich mich beim Mitsingen und bekomme von mitreisenden Menschen böse Blicke zugeworfen. Ich verlasse gesenkten Hauptes die Location und gehe in eine andere Bar. Auf dem Weg zum Abendessen komme ich nochmal an der Strandbar vorbei. Gerade singen ein Tourist, der seinem Trikot nach aus der Gegend von Manchester stammt, und der Mann hinter dem Keyboard den Song „Gloria“.

Gloria. Hier am Mittelmeer ist das ein Frauenname. Und es ist das Wort für Herrlichkeit, Ruhm und Ehre. Wenn man es geschrieben vor sich sieht, kann man es ganz gut auseinanderhalten, wegen der Großschreibung des Namens. Wenn man es gesungen hört, ist nicht zu erkennen, was gerade gemeint ist. Schon gar nicht übrigens in einer Strandbar, wenn das gesungene Italienisch des einen Interpreten einen herben britischen Einschlag hat. Aber auch so ist schon der Songtitel nicht ganz eindeutig: Ist jetzt eine Frau – oder doch Ruhm, Ehre, Glorie als Meta-Begriff gemeint? Wenn schon im Namen eines Liedes mehrere Bedeutungen stecken, kann man in einen ganzen Liedtext noch viel mehr Mehrdeutiges reinschreiben. Und genau das haben Umberto Tozzi und sein Texter Giancarlo Bigazzi in ihrem Song „Gloria“ aus dem Jahr 1979 auch gemacht.

Und damit herzlich willkommen zur heutigen Folge von „Expeditionen ins Tierreich der Musik“. Ich gehe heute auf die Suche nach belastbaren Belegen dafür, was uns Umberto und Giancarlo mit ihrem Song sagen wollten. Es beginnt im Internet: In den einschlägigen Foren zu diesem Song toben sich die Trolle, die Übersetzer:innen, die Sterndeuter:innen, die Empfindsamen und die knallharten Realist:innen seit rund zehn Jahren aus. Nach einer ersten Bestandsaufnahme handelt „Gloria“ demnach wahlweise von (in alphabetischer Reihenfolge)

  • einer imaginären Frau namens Gloria
  • einer realen Frau namens Gloria
  • einer realen, beinahe verheirateten Frau namens Gloria
  • Heroin
  • Kokain
  • und der Herstellung von Pappsternen

Bei so vielen verschiedenen Varianten ist es die vornehmste Aufgabe des Forsches, Licht ins Dunkel zu bringen. Auf also zu einer Expedition zur wahren „Gloria“.

(6) Meine Suche führt mich zunächst nach Amerika: In der US-Coverversion von der unvergleichlichen Laura Branigan aus dem Jahr 1982 geht es um eine Frau, die immer auf der Flucht ist und das auch noch unter falschem Namen (Alias). Und sie jagt immer etwas hinterher und man macht sich schon Sorgen, ob sie vielleicht mal langsam machen sollte, bevor sie zusammenklappt und dann die Frage: War es irgendwas, was er gesagt hat? Man weiß es nicht. Ursprünglich sollte der Song die emotionale Grundstimmung des Originals aufgreifen und „Mario“ heißen. Ich ertappe mich beim Singen von „Mario“, lasse es aber schnell wieder. Ist Gloria also nur eine Figur, eine „Charakterstudie“- wie Laura Branigan selbst einmal sagte – und sogar ihr Name austauschbar?

(7) Das erscheint mir zu kurz gegriffen, aber das mit dem falschen Namen ist ein hilfreicher Hinweis, der mich weiterbringt. Im Original heißt es :

E sempre questa storia che lei la chiamo Gloria

„Und immer wieder diese Geschichte, dass ich sie Gloria nenne“. Der Interpret nennt also eine – oder vielleicht alle anderen Frauen beim falschen Namen. Ist das die imaginäre Gloria – eine idealisierte Frauengestalt, mit denen der Interpret alle Frauen vergleicht? Schließlich behauptet Umberto auch noch:

Sui tuoi fianchi la mattina nasce il sole

„Auf Deinen Flanken wird am Morgen die Sonne geboren“. Eine ziemlich gewagte Behauptung. Dank moderner Wissenschaft wissen wir heute von der Rotation der Erde und dem dadurch bedingten Erscheinen der Sonne zu einer bestimmtem Tageszeit. Diese Textzeile könnte aber als Beleg für eine imaginäre Gloria als Adressatin dienen..

(8) Dann aber wiederum die Textzeile:

Gloria – scappa senza far rumore dal lavoro

Hier scheint es um eine sehr reale berufstätige Frau mit dem Namen Gloria zu gehen, die ohne Lärm zu machen der Arbeit entkommt. Mal eine Auszeit nimmt, mal blau macht. Ihr Einzelschicksal, die Biographie von Gloria, erscheint zwischen den Zeilen: Erst durfte sie im konservativen Italien der Siebziger nicht studieren, dann wurde jemand aus der Familie krank und Gloria musste zum Unterhalt des mehrköpfigen Haushalts beitragen. Und plötzlich ist sie seit Jahren in irgendeinem Brotjob, den sie sich nicht ausgesucht hat. Und dann kommt dieser eine Tag, an dem es nicht mehr geht – und Gloria nimmt sich die Zeit. Wer will es ihr verdenken?

(9) Möglicherweise äußern Tozzi und Bigazzi an der Stelle subtil ihre Kritik an der kapitalistischen Arbeitswelt. Geht es ihnen darum, wie mit der Zeit die Aussicht auf Herrlichkeit und Ruhm oder zumindest das, was man sich selbst darunter vorgestellt hat, aus dem Arbeitsalltag entschwindet, weil das Hamsterrad die Träume überrollt? Der Gedanke kommt aus einem Forum im Netz, wird dort aber leider nicht vertieft.

(10) Zurück zu unserer Gloria. Wenigstens hat sie die Hochzeit mit dem zweiten Sohn des örtlichen Großgrundbesitzers verhindern können. Zwar ist er ihr in Liebe ergeben, aber ansonsten ein ziemlicher Schwachkopf. Versetzen wir uns in ihre, in Glorias Welt aus einem vergangenen Jahrhundert: Vielleicht hätte sie mit dieser Eheschließung ihre materiellen Grundbedürfnisse sichern können, aber ihr Lebensweg wäre vorgezeichnet und keine Möglichkeit zum Ausbruch gewesen. Deswegen entkommt sie von den Stufen des Altars und jenseits davon warten – der Interpret und vielleicht ein anderes Leben:

Scappa dei gradini di un altare. T’aspetto Gloria

„T’aspetto, Gloria“ Ich warte auf Dich, Gloria. Ein offenes Versprechen.

(11) Zu einem anderen Thema: Die betäubungsmittelrechtlich bedenklichen Bezüge erschließen sich der arglosen Zuhörer:in nicht auf Anhieb. Der Text spricht von der Erinnerung an einen Kopfsprung in ein Mohnblumenfeld:

Con la memoria torna a un tuffo nei papaveri

Hier muss man schon ganz gezielt um mehrere Ecke denken: papaveri – Mohn, genauer der Schlafmohn, ist der Grundstoff für Opium. Und ein halbsynthetisches Derivat hiervon ist – Heroin. Chemisch ist der Bezug also begründbar, inhaltlich finde ich ihn etwas weit hergeholt.

Genauso wie bei der Textstelle

Sciogli questa neve che soffoca il mio petto

„Schmelze diesen Schnee, der meine Brust erstickt“. Das kann man als Anspielung verstehen, muss man aber nicht.

(12) Genauer geht der Songtext darauf ein, wie sehr Gloria fehlt:

Manchi tu nell’aria, manchi come il sale

„Du fehlst in der Luft, Du fehlst wie das Salz“. Kürzlich stand ich in der Salzburger Festung und habe sämtliche Dioramen zum Thema Salz genau studiert. Ist schon wichtig, das Salz. Der Reichtum ganzer Städte, Fürstenreiche und Bistümer ist darauf aufgebaut. Unter anderem der von, wer hätte es gedacht – Salzburg. Wenn Salzburg in einem Podcast über Musik vorkommt, dann landen wir unweigerlich bei – ja, bei Mozart auch, aber der ist hier ausnahmsweise mal nicht gemeint. Wenn man schon in Salzburg nicht an Mozart vorbeikommt, weil er noch auf jedem Regenschirm, jeder Tasse, jedes Straßenschild draufgepappt erscheint, dann komme ich hier einigermaßen um ihn rum. Salzburg ist, das wissen die meisten natürlich, der Geburtsort von Herbert von Karajan. Anders als Mozart war er ein Zeitgenosse von Umberto Tozzi und „Gloria“. Die Legende besagt, dass Karajan einst ein Interview unterbrach, als er „Gloria“ im Radio hörte. So beeindruckt sei er von dem Lied gewesen. Und weil das Liedchen dem großen Maestro so gut gefiel, spielte er es mit dem London Symphony Orchestra ein. Welch eine Ehre, die vor über vierzig Jahren nur wenigen U-Musikstücken gewährt wurde.

(13) Wenn selbst ein großer Dirigent wie Herbert von Karajan alles stehen und liegen lässt, wenn er „Gloria“ hört – wie geht es dem Interpreten selbst, wenn er an Gloria denkt? Nun, er macht was ganz anderes:

Faccio stelle di cartone pensando a Gloria

„Wenn ich an Gloria denke, falte ich Pappsterne.“ Für diese Textzeile habe ich keine sinnvolle Verwendung. In Liedtexten muss auch Raum für Abstraktes und Abstruses sein. Und Umberto Tozzi und Giancarlo Bigazzi sind bekannt dafür, verwirrende Sprachfiguren in ihre Lyrics einzubauen, häufig übrigens mit Bezügen zur Papierindustrie. Ein Beispiel: In ihrem Mega-Hit „Ti amo“ – ja, der ist auch von den beiden, nischt von Howard Carpendale – jedenfalls im italienischen Original von „Ti amo“ singt Tozzi:

Apri la porta a un guerriero di carta igienica

„Öffne die Tür für einen Krieger des Toilettenpapiers“. Das erschließt sich nicht sofort der textlichen Deutung und hinterlässt Fragen zur Intention des Künstlers. Jedenfalls bei mir. Und ich kann diese Frage, was das bedeuten soll, nicht beantworten.

(14) Wenn aber solche einfachen absurden Textstellen schon so große Fragezeichen bei mir hinterlassen, wie ist es dann erst mit dem ganzen Song „Gloria“? Mit all den Varianten? Ich habe mich aufgemacht, die wahre Gloria zu finden und jetzt stehe ich vor Pappsternen und Toilettenpapier und weiß nicht, was ich damit anfangen soll. Und so geht es mir mit all den vermeintlichen Belegen, die ich auf meiner interkontinentalen Expedition gesammelt, bewertet und konserviert habe: Wer die wahre Gloria ist, werde ich nicht zweifelsfrei erfahren. Das Schöne daran ist: Ich muss es auch nicht. Wer oder was Gloria für jeden von Euch ist, könnt Ihr selbst entscheiden. Hier ist Umberto Tozzi mit „Gloria“. Und danach kommt eine Musikempfehlung, die sich schon angekündigt hat.

(15) Natürlich, wie könnte es anders sein: Salzburg, Mozart, Karajan. Bei den Salzburger Festspielen, am 29. Juli 1957 spielten die Berliner Philharmoniker unter der Leitung von Herbert von Karajan unter anderem die Symphonie D-Dur KV 285, die sogenannte „Haffner-Symphonie“. Das lasse ich jetzt als Information mal so stehen, denn auch in meiner heutigen Musikempfehlung komme ich trotz Salzburg-Reise um Mozart herum. Nach all den Zwei- und Mehrdeutigkeiten rund um „Gloria“ brauche ich jetzt etwas Klares, Einfacheres. Sowas wie „Ich suche den Sommer das ganze Jahr und jetzt auf einmal ist er da. Sie ist schon runter an den Strand gefahren und ich bin alleine hier in der Stadt.“ Va bene, Adriano. Hier ist Celentano mit „Azzurro“.

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