Von der irischen Ostküste an die Westküste. Elton Box und Desmond Cox und ihre Kokosnüsse. Am Ende fügt sich alles.
Die Galway Bay ist eine große, sehr malerische Bucht an der Westküste Irlands, rund 50 Kilometer lang und bis zu 30 Kilometer breit. Im 18. und 19. Jahrhundert wurde die Galway Bay von den Galway Hookers, einem regionalen Segelschiffstyp, befahren. Eine überregionale Bedeutung für die Schifffahrt von und nach Irland hat die Galway Bay nicht. Die großen Atlantikrouten führen heute wie damals von Southampton oder Dover nach New York. Die Galway Bay und auch das frühere Fischerdörfchen Claddagh wurden von Transatlantikdampfern nicht angelaufen. Und durchquerte man auf einem Schoner die Irische See zwischen Irland und Großbritannien, landete man – damals wie heute – an der irischen Ostküste, nicht an der Westküste. Von der irischen Ostküste an die irische Westküste, also beispielsweise von Dublin nach Galway, sind es rund 200 Kilometer.
Warum ist das wichtig? Weil man – wenn man so wie ich keine Ahnung von den geographischen Gegebenheiten hat – sich ein völlig falsches Bild macht, wenn man den Anfang des Liedes „Galway Bay“ hört:
If you ever go across the sea to Ireland, it maybe at the closing of your day
Lyrics „Galway Bay“
You will sit and watch the moon rise over Claddagh and see the sun go down on Galway Bay
Vor meinem geistigen Auge läuft ein Dampfschiff, von Westen aus dem fernen Amerika kommend, auf die irische Küste zu. An Bord eine Familie von vor Jahrzehnten emigrierten Iren, die der Unterdrückung und dem Hunger entkommen wollten und deswegen ihre Heimat verlassen mussten. Darüber hat übrigens ein gewisser John Lennon mal einen Protestsong geschrieben, „Luck of the Irish“, und zusammen mit Yoko Ono gesungen. Lennon beschreibt mit der ihm eigenen Ironie das vermeintliche „Glück der Iren“, das ihnen Jahrhunderte britischer Zwangsherrschaft beschert habe. Hier jetzt der Bogen zurück zu den irischen Emigrant:innen, die an Bord des Transatlantikdampfers endlich zurückkommen. Wie John und Yoko haben sie in den Vereinigten Staaten ihr Glück gemacht. Jetzt können sie die Reise zurück antreten und endlich, nach langen Tagen auf See, liegt vor ihnen die jahrzehntelang vermisste Heimat. Der letzte Blick zurück damals, hungrig und frierend, soll jetzt der erste auf die Grüne Insel sein: Der Blick auf die Bucht von Galway. Der körperliche Hunger ist gestillt, aber der Hunger nach dem Zurückgelassenen so unstillbar wie seitdem an jedem Tag. Und am Abend betrachtet man, wieder zuhause, an Land und vereint mit jenen, die noch da sind, den Sonnenuntergang über der Galway Bay.
Tatsächlich kommt man, egal woher, auf der gegenüberliegenden Seite der Insel, an der irischen Ostküste an und muss dann, um abends an der Galway Bay an der Westküste zu sitzen, die Postkutsche spätestens morgens um zehn erwischen, um gegen acht in Tullamore zu sein und dort das Nachtquartier in einer zugigen Poststation beziehen. Am nächsten Morgen um neun, wenn die Pferde soweit sind, kann es dann weitergehen und dann, wenn alles gut läuft und die Räder halten und sich die Straßenverhältnisse um Oranmore (oder Oránmore, wer weiß das schon) gebessert haben, so dass man einigermaßen durchkommt – dann ist man abends um sieben in Galway. Und wenn man dann noch Lust hat, dann kann man sich den Sonnenuntergang dort anschauen, denn dann man ist auf der richtigen Seite der Insel, wo auch wirklich die Sonne untergeht.
Klar, das kann man nicht alles in der Detailtiefe in einem Songtext unterbringen. Vor allem dann nicht, wenn es gar nicht nur um diese eine Bucht geht, sondern das Lied eine Art Gesamtschau Irlands von allen Seiten bietet. Es werden Forellenflüsse, Hochlagen, Wiesen mit Heidekraut und natürlich die Irische See besungen. Ein bisschen wie ein musikalischer „Visit Ireland“-Flyer. Vielleicht erklärt das die ungeheure Popularität, der sich dieser 1947 von Dr. Arthur Colahan, einem irischen Arzt und Offizier, komponierte Song vor allem unter irischen Auswanderern erfreute. Die Popularität führte „Galway Bay“ bis an die Nr. 3 in den US Billboard Charts! Höher kam übrigens John Lennons „Imagine“ auch nicht.
Gefreut über den Erfolg von „Galway Bay“hat sich sicher der Musikverlag, dem die Rechte daran gehören: „Box and Cox Publications“ aus London. Die beiden Firmeninhaber hießen tatsächlich Elton Box und Desmond Cox. Der größte Erfolg von Box and Cox Publications war, mit über drei Millionen verkauften Copies, der Song“I’ve got a lovely bunch of coconuts“. Inhaltlich setzt sich der Text mit dem Coconut Shy, der britischen Version unseres Dosenwerfens, auseinander. Beim Coconut Shy geht es darum, an einer Jahrmarktbude mit hölzernen Bällen auf Kokosnüsse zu werfen, die auf Stäben aufgestellt sind. Fallen die Kokosnüsse herunter, bekommt der Werfer sie als Preis. Anders als bei „Galway Bay“ geht der Texter hier weit in die Einzelheiten:
I’ve got a lovely bunch of coconuts, there they are, all standing in a row
Lyrics „Ive got a lovely bunch of coconuts“
Big ones, small ones, some as big as your head
Give them a twist, a flick of the wrist – that’s what the showman said
Einer der erfolgreichsten Interpreten der bewegenden Zeilen von „Ive got a lovely bunch of coconuts“ ist Danny Kaye. Danny Kaye war ein Star im Hollywood der 50er. In seiner märchenhaften Karriere verkörperte er nicht nur Hans Christian Andersen in dem gleichnamigen Musikfilm aus dem Jahr 1952, sondern er war auch Walter Mitty in der Erstverfilmung von „The Secret Life of Walter Mitty“, er war „Der Hofnarr“ in dem gleichnamigen Technicolor-Streifen, er war „Die (bauchredende) Lachbombe“. Kaye war Musical-Star, Pantomime, Dirigent, Koch, Sänger und Slapstick-Komödiant. Ein Tausendsassa. Sein Unterhaltungs-Handwerk lernte er in den Sommer-Resorts in den Catskill Mountains im US-Staat New York, wo er schon als Minderjähriger als „Master of Ceremonies“ auftrat und sein Publikum unterhielt.
In einem seiner Filmhits aus dem Jahr 1954 spielt Danny Kaye den jungen, gerade aus der Army entlassenen Entertainer Private Phil Davis, der zusammen mit dem früheren Broadway-Star und Army-Veteran Captain Bob Wallace in einem Resort in Vermont eine Show zur Rettung des Columbia Inn Hotels aufzieht. Das Hotel steht wegen des für die Jahreszeit viel zu warmen Wetters und der ausbleibenden Ski-Touristen vor dem Aus, bis Phil und Bob mit den Einnahmen der Show das Hotel und seinen Eigentümer, den alternden General Waverly, retten. Und wenn in der letzten Szene dann endlich der lang ersehnte Schnee fällt, singen alle zusammen „White Christmas“. So heißen der Film und der größte Hit von Danny Kayes Filmpartner – Bing Crosby. Und so fügt sich alles zusammen.
Bing Crosbys Welthit „White Christmas“ gehört genauso zu Weihnachten wie Bing Crosbys Song „Galway Bay“. Letzterer über Umwege, dafür aber sehr nachdrücklich, ist er doch Bestandteil des Weihnachtssongs, der im Großbritannien des 21. Jahrhunderts so häufig gespielt wird wie kein anderer: „Fairytale of New York“ von Shane MacGowan und Kirsty MacColl. Die beiden schmettern im Refrain:
The boys of the NYPD choir were singing Galway Bay
Lyrics „Fairytale of New York“
And the bells were ringing out for Christmas day
Historisch gibt es eine enge Verknüpfung des New York Police Department mit der New Yorker Irish Community: Seit Einführung des Department nach dem Vorbild der Londoner Metropolitan Police im Jahr 1844 sind unzählige Iren Teil der Force geworden, zum einen wegen des krisensicheren Jobs bei der Stadt, zum anderen, weil sie so an einflussreicher Position zur Integration ihrer Familien und anderer Einwanderer beitragen konnten. Zeitweise bestand das NYPD zu einem Drittel aus gebürtigen Iren! Und da singt der Polizeichor eben auch noch hundertfünfzig Jahre später das Lied von der alten Heimat und vom Sonnenuntergang an der Galway Bay.
So schön, so gar nicht wahr. Als Shane MacGowan im August 1987 den Text zu „Fairytale of New York“ fertigstellte, hatte das NYPD keinen Chor. In all den Jahren davor übrigens auch nicht. Für das Musikvideo, dass im November 1987 gedreht wurde, sprangen die NYPD Pipes and Drums ein. Auf der Fahrt zum Dreh tranken die Bläser und Trommler sich derart viel Mut an, dass sie am Set besoffener als die eigentliche Band – die Pogues – auftauchten, was schon mal kein leichtes Unterfangen war. Als die Pogues freudig anhoben, es den NYPD Pipes and Drums gleichzutun und sich ordentlich einen hinter die Binde zu kippen, war die ganze Sache kurzzeitig in Gefahr – zumal die NYPD Pipes and Drums es ablehnten weiterzumachen, wenn die Versorgung mit Getränken nicht sichergestellt werde. Gedreht wurde zu allem Überfluss in einer echten Polizeiwache an der Lower East Side. Augenzeugen versichern, die öffentliche Sicherheit und Ordnung sei zu keinem Zeitpunkt gefährdet gewesen, aber sicher seien sie sich nicht. Der größte Teil der Filmaufnahmen konnte dann auch nur in sehr verlangsamter Form im Musikvideo verwendet werden.
Irgendwie passt das zu dem Songtext von „Fairytale of New York“, in dem ein Paar sich herzhaft streitet und sich alle möglichen Liebenswürdigkeiten an den Kopf wirft. So liebenswürdig, dass die britische Zensur einschritt. Anfang der 90er mussten Textzeilen bei Live-Auftritten umgedichtet werden, 2007 schnitt BBC Radio 1 einzelne Begriffe aus den Lyrics und noch 2020 gab es die sich jährlich wiederholende Diskussion in der BBC um „Britains schlimmste Festtags-Tradition“ der Verwendung verunglimpfender Schimpfwörter. Und in all diesem Lärm um die gegenseitigen Beleidigungen geht die wundervolle letzte Strophe fast unter:
I could have been someone – Well so could anyone
Lyrics „Fairytale of New York“
You took my dreams from me when I first found you
I kept them with me babe I put them with my own
Can’t make it all alone I’ve built my dreams around you
Und dann singen die Boys vom NYPD Choir wieder „Galway Bay“. Im Original von Bing Crosby und verfügbar bei allen Musik-Streamingdiensten
An der unbedingten Musikempfehlung geht heute kein Weg vorbei, schließlich ging es schon im letzten Drittel fast nur noch um „Fairytale of New York“. Also müsst Ihr Euch den Song auch anhören. Eine Randnotiz: Im November 2023 fand sich eine Gruppe von ehemaligen Police Officers des NYPD zu einem Chor zusammen und sang „Galway Bay“. Jetzt stimmt der Refrain von „Fairytale of New York“.