Fürstliche Ignoranz. Schreckliche Unwetter. Duftende Telefonzellen.
Es ist Frühling. Das Wetter gibt einen Vorgeschmack auf den Sommer. Die durchschnittlichen Temperaturen liegen mit 15,6 ºC deutlich über dem langjährigen Mittel von 13,7 ºC. Und das, obwohl der April so trüb war, ungefähr 100 Sonnenstunden weniger als sonst. Und überhaupt ist es jetzt schon ein widersprüchliches Jahr. Ausgerufen als das „Internationale Jahr des Friedens“ ist davon nicht viel zu sehen. In Spanien Massendemonstrationen für den Austritt aus der NATO. Im Nordjemen ist Bürgerkrieg. König Mswati der Dritte wird Staatsoberhaupt in Swasiland. Und der Elfte Parteitag der SED ist gerade zu Ende gegangen. Prominentester Gast war der sowjetische Staatschef Michail Gorbatschow. Denn es ist gar nicht 2023, es ist 1986. Die USA fliegen Angriffe auf libysche Städte, Gorbatschow fordert Glasnost und Perestroika und Clint Eastwood wird Bürgermeister der kalifornischen Kleinstadt Carmel. Und dann fliegen erst die Challenger und kurz darauf Tschernobyl in die Luft. Schwierige Zeiten.
Auch und gerade für Kultur, Kunst und die Musik. Was kann, was will man den Menschen in solchen Zeiten zumuten? Die Einen sagen: „Komm, gib ihm“ und so wird am 1. Februar 1986 die Oper „Hunger und Durst“ von Violeta Dinescu in Freiburg uraufgeführt. Die Anderen – und die waren aber deutlich in der Überzahl – suchen simplere Unterhaltung. Nur so lässt es sich erklären, dass das britische Duo Bruce and Bongo mit ihrer Single „Geil“ vier Wochen im Frühjahr 1986 auf Platz 1 der deutschen Charts war. Der Liedtext erschöpft sich in der willkürlichen Aufzählung von Personen der Zeitgeschichte, Tieren und Unterhaltungsfacharbeitern, die alle geil sind. In der Reihenfolge: Der Discjockey, Boris Becker, Affen und „everybody“. Das ist sicher nicht das Dümmste, was jemals in den Charts angekommen ist, aber es ist schon erstaunlich simpel. Die Hitsingle „Geil“ wurde an Position 1 übrigens von „Midnight Lady“ abgelöst, einem Werk aus der Feder des Textungeheuers Dieter Bohlen, aber das ist eine andere Geschichte. So wie es auch heute um eine ganz andere Geschichte gehen wird.
Hinter Bruce and Bongo und Chris Norman, der Bohlens Text zu „Midnight Lady“ singen musste, erreichte eine der ungewöhnlichsten Singles der Achtziger erst Platz 3 und dann sogar Platz 2 in den deutschen Charts: Stephanie mit „Irresistible“ . Was heute ja keiner mehr weiß: Hinter dem Künstlernamen „Stephanie“ verbirgt sich keine geringere als Her Serene Highness Princess Stephanie Marie Elisabeth Grimaldi, Prinzessin von Monaco. Wenn es nach dem monegassischen Fürstenhaus geht, sollte wohl auch keiner wissen, dass die Prinzessin auch mal ein Popstar war. In ihrer offiziellen Biographie erscheint dazu jedenfalls nicht eine Silbe. Nicht nur damals nicht, sondern auch heute nicht. Was wirklich bemerkenswert ist, aus mehreren Gründen: Zum einen – Prinzessin Stephanie, liebe Millennials, war in den Achtzigern extrem häufig in der Yellow Press, mit allen möglichen Geschichten, erfundenen Interviews und dem ganzen Schund, für den man heute Chefredakteurinnen entlässt. Da hätte ich mir ein wenig Fürsorge vom Fürstenhaus gewünscht, aber das war damals genausowenig en vogue wie eine Chefredakteurin zu entlassen – was damals auch recht schwer war, denn es waren durchgehend Chefredakteure. Zurück zur Musik und zu dem noch unglaublicheren Fakt: In Frankreich war der Song zehn Wochen auf Nummer 1. Stephanie hatte einen Numero Un-Hit in France! Mit über einer Million verkauften Singles. Das fand aber Fürst Rainier, der Papa von Stephanie, wohl nicht so klasse. Popmusik ist nicht fürstlich und so was Schnödes wie Geld verdienen geht gar nicht und was der Fürst einmal nicht gut findet, kommt halt nicht vor. Bis heute nicht. Ich finde das erstaunlich.
Dem musikalischen Erfolg tat das keinen Abbruch. Die Single wurde in Frankreich übrigens nicht etwa als „Irresistible“ oder „Irrésistible“ rausgebracht, sondern heißt im Original „Ouragan“. Das kommt vom Refrain, der geht so:
Comme un ouragan qui est passé sur moi
Lyrics „Ouragan“
L’amour a tout emporté
Dévasté nos vies, des rêves en furie
Qu’on ne peut plus arrêter
Da braucht es schon das ganze Schulfranzösisch… Wenn man sich durchgewurschtelt hat, erkennt man: Was für ein wundervoller Text! „Wie ein Orkan, der über mich hinwegging, hat l’amour alles mitgerissen. Unsere Leben verwüstet. Zornige Träume, die man nicht stoppen kann.“ Wie elementar! Im besten Sinne: Grundlegend und wesentlich. Ein Spiel mit den Elementen. Geht noch weiter:
Comme un ouragan la tempête en moi
Lyrics „Ouragan“
A balayé le passé
Allumé nos vies, c’est un incendie
Qu’on ne peut plus arrêter
„Wie ein Orkan hat der Sturm in mir die Vergangenheit hinweggefegt. Unsere Leben angezündet. Jetzt ist es ein Großfeuer, das man nicht mehr löschen kann“.
In den Strophen passiert dann auch noch das eine oder andere. Aber der Inhalt ist so in etwa klar: Zwei Menschen sind in einem emotionalen Ausnahmezustand und das fühlt sich an, als sei 2023 und der Klimawandel in vollem Gange. Man kann unterschiedlicher Meinung darüber sein, ob der bildliche Vergleich von starker Zuneigung und diversen Naturkatastrophen tauglich ist. Vielleicht war es ja Rücksicht auf zartere Seelen, die dazu führte, dass man von diesem Vergleich abkam und es eine englische Fassung des Liedes mit einem ganz anderen, sanfteren Inhalt geben sollte. Vermutlich war es aber der reine Kommerz. Wenn man nach der Numéro Un in Frankreich auch das wirtschaftliche Potential außerhalb Frankreichs ausschöpfen wollte, dann ging das nur mit einer englischsprachigen Fassung. Was dann passierte, ist in der Forschung umstritten: Entweder lag es daran, dass die Zeit der großen französischen Chansons schon einige Jahre zurücklag und damit für die Texter von „Irresistible“ offenbar auch die Zeit, in der Menschen außerhalb Monacos und Frankreichs intellektuell irgendetwas zuzutrauen war. Oder es musste schnell gehen, weil keiner mit dem Erfolg der Prinzessin gerechnet hatte. Jedenfalls wurde die englische Version auch ein „elementarer“ Text, aber eher so wie in „Ihnen fehlten selbst elementare Kenntnisse von der Herstellung halbwegs vernünftiger Texte“. Es wurde ein Jammer.
Bevor ich aber da weitermachen kann, brauchen wir noch ein bisschen Kontext. Am Anfang der Folge hatten wir es schon kurz davon, was die Welt bewegte, aber in welcher Welt bewegten sich die Menschen? Um sich diese Welt vorzustellen, braucht es – einen Fernsehwerbespot. Einfache Botschaften, knallbunt vorgetragen. Wir nehmen am besten den Gammon-Werbespot. Gammon, das Mittel-Billo-After Shave mit dem „exklusiven Duft eines Eau de Toilette“? Anyone? Es gab in den 80ern und 90ern eine ganze Reihe von TV Spots und einen ganz besonders herausragenden. Zeigen kann ich den hier nicht, aus ganz vielen Gründen, aber nacherzählen kann ich ihn:
Eine sonnendurchflutete Telefonzelle in einer großen Stadt, an einer Straßenecke. Er, Anfang 30, glattrasiert, T-Shirt unterm Anzug, steht in der Telefonzelle und telefoniert. Sie, selbes Alter, weiße Bluse, Kostüm, steht vor der Telefonzelle und muss ein dringendes Telefonat führen. Er: Telefoniert. Lacht. Sie: Schaut demonstrativ auf ihre Armbanduhr. Hebt entnervt beide Hände (in einer hält sie eine Zeitung). Umrundet mehrfach die Telefonzelle. Er: Hebt den rechten Zeigefinger, signalisiert mit angewinkeltem Arm in unnatürlicher Pose „Moment“. Sie: Donnert die Zeitung gegen das Plexiglas. Er: Hebt beschwichtigend die rechte Hand. Telefoniert weiter. Sie: Schleudert die Zeitung zu Boden. Reißt die Telefonzellentür auf. Er: Dreht sich mit irritiertem Gesichtsausdruck zu ihr um. Lässt den Hörer in der linken Hand sinken. Sie: Atmet. Ganz. Tief. Ein. Riecht den provokanten Duft von Gammon. Küsst ihn sanft auf die Wange. Er: Schaut etwas einfältig. Lächelt dann. Dazu die Stimme aus dem Off: „Gammon. Mit diesem Duft kann Dir alles passieren.“
Ist das so? Oder gibt es bei näherer Betrachtung ein, zwei Dinge, die sich im echten Leben nicht so abspielen würden? Fangen wir mal ganz vorne an, bei der Telefonzelle in der Sonne. An einer Straßenecke in einer Stadt. Die Sonne muss also eine gewisse Höhe erreicht haben, um die Telefonzelle so auszuleuchten. Sie ist nicht gerade aufgegangen und auch noch nicht am untergehen. Vor der Telefonzelle steht eine Frau in einem Business-Kostüm und einer Bluse. Es hat also mindestens 25 Grad Außentemperatur, sonst hätte sie was anderes an. Außerdem hat sie eine Zeitung in der Hand. Eine Zeitung hast Du als Business-Mensch ja nicht mehr nachmittags in der Hand, es ist also später Vormittag. Sagen wir 11 Uhr 23. Im Juni. Anfang bis Mitte Juni. Uhrzeit, Sonneneinstrahlung und Außentemperatur lassen einen ziemlich präzisen Rückschluss auf die Temperatur in der Telefonzelle, auf die seit Stunden die Sonne knallt zu. Es sind ungefähr 85 Grad da drin. Unser Telefonierer hat ein T-Shirt an, aber er trägt es unter einem Sakko. Das Muster sieht nach Pepita aus. Sakkos mit Pepita-Muster werden nicht aus Leinen hergestellt, in den meisten Fällen ist es ein Wollgemisch. Kurz zusammengefasst: Es hat 85 Grad in der Telefonzelle, er trägt T-Shirt und Wollsakko und führt ein langes Telefonat. Der Typ schwitzt da drin. Und wie. Als sie dann endlich die Tür aufreißt und so richtig mit Schwung eine Nase nimmt, ist das Pumakäfig. Ist in dem Spot der Lady aber egal, sie schmiegt sich als erste Reaktion auf das olfaktorische Erlebnis an den fremden, schwitzenden Mann und drückt ihm einen Kuss auf die Wange. Glaub ich nicht.
In einem realistischeren Spot hätte die Lady die Tür geöffnet, den Geruch ansatzweise mitbekommen – und die Tür gleich wieder zugemacht. Dann: Tief Luft holen und die Tür nochmal auf. Mit einem langen Arm den Finger auf die Gabel gedrückt, damit der Telefon-Schnösel endlich damit aufhört, seinem Kollegen aus der Vertriebsabteilung von Gammon zu erzählen, was ihm schon wieder alles wegen dem öligen Duftzeugs passiert ist. Als nächstes die Zehn-Pfennig-Münzen aus diesem kleinen Klappfach unten am Fernsprechapparat, die wegen der Beendigung des Telefonats durchgerauscht waren, zusammengesammelt, den Schwitzemann mit wüsten Flüchen vertrieben, ihm das Telefongeld hinterhergeworfen und dann ihre Zeitung und eine Flasche Gammon dazu verwendet, die unbrauchbar gewordene Telefonzelle auszuräuchern. Das ist ein realistischer Ablauf. Himmelweit entfernt von der schlichten Botschaft, dass man verfügbare Ressourcen so lange verwenden kann wie man will und alle das total okay finden und Dir sogar noch ein Küsschen geben – Hauptsache, Du riechst nach Gammon.
Aber so sah nun mal die Botschaft für die Menschen vor den Rundfunkempfangsgeräten aus. Und in diesem Spirit ist dann der Songtexte zu „Irresistible“ entstanden. Strophe Eins:
He’s so secure
Lyrics „Irresistible“
He’s so sure
He’s so vain.
Er ist so sicher. Er ist so sicher. Er ist so eitel. Relativ schnell wird deutlich: Hier geht es nicht um große Gefühle oder Naturgewalt, hier geht es um „ihn“, der sicher und sicher und eitel ist. Und was bringt „er“ noch so für Eigenschaften mit? Na mal mindestens noch zwei und die lassen sich in eine Textzeile fassen:
He’s a maker of fashion
Lyrics „Irresistible“
He’s a faker of passion
Ein Modemacher und Leidenschaftsfälscher. Eine klare, kraftvolle Charakterzeichnung und im Englischen reimt sich das auch noch. Und es geht in der Art weiter. Anders als im Original geht es hier nicht um zwei, sondern um „eine“, die sich wider besseres Wissen immer wieder auf „einen“ einlässt, der so unwiderstehlich ist wie sein Rasierwasser. Das ist eine andere Geschichte.
Kurze Zusammenfassung: Im Französischen zwei, die emotional Naturgewalten ausgesetzt sind. Im Englischen eine, die immer wieder „einen“ bereut:
Can’t I simply forget him
Lyrics „Irresistible“
′Cause I know I′ll regret him?
Und dann kommt noch das, was die deutsche Phono-Industrie daraus macht… Denn natürlich gab es wenige Wochen nach dem Charterfolg von „Irresistible“ in Deutschland auch eine deutsche Fassung. Damit keiner auf irgendeine Idee kommt, trägt sie den nicht irreführenden Titel „So verführerisch“. Und wieder: Naturgewalten, aber dieses Mal eher wissenschaftlich.
Ziehst mich an so wie ein Magnet
Nur ein Blick von dir schon genügt
Und ich falle wie ein Komet
Lyrics „So verführerisch“
Keine Katastrophen, eher nüchterne Physik und Astronomie. Einstein und Kepler grüßen winkend und warnen vor den Abgründen deutscher Fassungen von internationalen Erfolgen.
Was bleibt? Das Verhältnis von Kommerz und Popmusik, von Mann und Frau, von Blaublütigen und Normalen und sogar das von Sonne und Regen war vor fast vierzig Jahren auch nicht einfach. Einfach waren und sind die Signale aus der Unterhaltungsindustrie als Reaktion auf komplizierte Verhältnisse. Und auch ansonsten ist vieles noch beim Alten. König Mswati der Dritte ist immer noch König von Swasiland. Hier ist seine fürstliche Kollegin Stephanie mit „Ouragan“, von dem wir jetzt wissen, dass es den viel schöneren Text hat als „Irresistible“.
Am meisten bin ich ja selbst überrascht davon, wo ich am Ende einer Folge rauskomme. Die heutige unbedingte Musikempfehlung überrascht mich nicht, führt doch die Familiengeschichte der Grimaldis direkt dort hin: Stephanies Mutter war keine andere als Grace Kelly. Jetzt also die für mich wenig überraschende unbedingte Musikempfehlung, die zum Glück auch ein ganz toller Song ist. Hier ist Mika mit „Grace Kelly“. Bis zum nächsten Mal!