Woche 9: Del Amitri, Nothing ever happens

Das beste Auto der Welt und die beste Aioli der Welt kommen aus Frankreich. Del Amitri kommen, wie viele großartige Musiker:innen, aus Großbritannien. Und manchmal sind es die kleinen Dinge.

Es gibt Geräusche, die niemand gern hört. Quietschende Kreide auf einer Schultafel. Eine abrutschende Gabel auf einem Porzellanteller. Styroporplatten, die beim Auspacken eines elektronischen Großgeräts aneinanderreiben. Eine anfliegende Stechfliege kurz vor dem Einschlafen in einer Sommernacht gegen halb 1 bei einer Zimmertemperatur um die 30 Grad. (Ich könnte stundenlang so weitermachen.) In meiner persönlichen Rangliste ganz oben steht aber das Geräusch, das ertönt, wenn der Fahrlehrer in der praktischen Fahrprüfung auf der Bremse steht. Es ist in der Tonhöhe und Lautstärke einer Wohnungsklingel in einer Hochhauswohnung nicht unähnlich. Ein elektronisches „Warnschnarren“ ohne jeden Schnörkel, klar, präzise, zweckbestimmt. Mit der unmissverständlichen Botschaft “ Da möchte jemand zu Dir“ im Fall der Wohnungsklingel, und „Die Prüfung ist dann jetzt vorbei und Du bist durchgefallen“ bei der Fahrprüfung. Das war jedenfalls das, was mein Fahrlehrer mir mitteilte, als er von der Bremse stieg. Die näheren Umstände spielen heute keine Rolle, es war niemand akut in Gefahr, aber seitdem schaue ich wenigstens in irgendeinen Rückspiegel, hervor ich schwungvoll zurücksetze.

Die praktische Fahrprüfung nicht auf Anhieb zu bestehen halte ich nicht für einen Makel, ich kann darüber offen sprechen. Die Prüfung kann man wiederholen und dann bekommt man den Führerschein eben etwas später. Das ist wirklich kein Drama. Aus heutiger Sicht. Damals war es – eine Katastrophe. Es bedeutete, weiterhin nicht mobil zu sein. Und das in einem Vorort in den Ausläufern des Vordertaunus. Und was alles nur noch schlimmer machte: Mein eigener PKW stand schon vor der Tür. Dank einer ausgesprochen glücklichen Fügung und dem internationalen Zusammenwirken innerfamiliärer Strukturen war der Import des unangefochten besten Autos der Welt schon vollzogen. Zu meinem 18. Geburtstag stand er in der Einfahrt, verpackt mit Schleife und allem: Ein roter R4. Jetzt nur noch den Führerschein bestehen und ab dafür. Bis dann dieses hässliche Geräusch kam. Nach der verhauenen Prüfung saß ich mit hängendem Kopf bei Nieselregen in meinem R4 in der Garageneinfahrt. Im Mono-Kassettendeck liefen die Doors mit „The End“ und weil das Lied ziemlich lang ist und ich die Batterie in dem unbewegten Fahrzeug nicht überstrapazieren wollte, habe ich den Song nicht zu Ende gehört.

Drei Wochen später hatte ich den Lappen. Für die Millennials unter den Hörer:innen: Der Führerschein hatte damals noch kein Kreditkartenformat, sondern bestand aus gefaltetem rosafarbenen Papier. Aus Gründen der Widerstandsfähigkeit war das aber kein normales Papier, sondern irgendsoeine besondere Pappe, die sich irgendwie ledrig anfühlte und so hieß das Ding halt „der Lappen“. Ist nicht so wichtig. Wichtig war die Bestätigung, dass ich ein Kraftfahrzeug im Verkehr führen durfte. Und das tat ich dann auch: Eine Gauloises Blondes im Mundwinkel, die Revolverschaltung im R4 mit einem kurzen kraftvollen Schubs in den dritten Gang und auf 45 Stundenkilometer beschleunigt, der Fahrtwind durch das vordere Schiebefenster in die langen Haare – liberté toujours. Und ganz viel Zuneigung für Frankreich, die Nation, die mir das Auto, die Zigarette und den Sehnsuchtsort meiner Fahrten beschert hatte.

Ohh, Sehnsuchtsort Frankreich. Besser noch: Paris. Aber Paris war weit weg. Realistisch betrachtet war unter der Woche noch nicht einmal das Saarland erreichbar, nicht mit einem R4 mit 34 PS und einer Höchstgeschwindigkeit von 126 Stundenkilometern, bergab und mit aerodynamisch angelegten Ohren. In Reichweite war – die Wiesbadener Innenstadt. Zu unserem ganz großen Glück gab es dort damals eine echte Bastion französischer Lebenskunst. Ein von unbeugsamen Galliern bevölkertes Kellerlokal. Mit rotkarierten Tischdecken und einem für unseren Gaumen „vorzüglichen“ Landwein. Und der besten Aioli der Welt, die – verarbeitet in einem üppigen Spaghettigericht – für einen intensiven Atem bis zum folgenden Nachmittag sorgte. Unter der Woche ein gemütliches Restaurant, am Wochenende „the place to be“, wenn Du sehen wolltest, wie Luft brennt. Wie Schweiß von der Decke tropft. Die aufgehende Sonne im Glas, die „Negresses Vertes“ in den Ohren. Und die Menschen, mit denen wir dort zusammen waren. Herkunft egal, wir haben unter der Woche miteinander geredet und am Wochenende zusammen auf den Tischen getanzt. Den vorzüglichen Landwein getrunken und die Aioli geteilt – was auch sein musste, denn ansonsten hättest Du bei dem „intensiven“ Aroma auch die zwangsweise räumliche Nähe nicht ausgehalten.

In diesem Kosmos tauchten eines Tages zwei Straßenmusiker auf. Nicht aus Frankreich, sondern aus der Gegend von Manchester. Briten also und das spielt hier eine Rolle. Nicht wegen Britpop, Oasis, Blur und allen anderen, die kamen später. Aber es gab ja auch schon vorher recht gute britische Bands. Die Beatles zum Beispiel oder Pink Floyd. Und deren Songs spielten die beiden auf ihren zwei Gitarren als akustische Versionen. „Wish you were here“, „Nowhere man“ und sogar „Comfortably numb“. Ich gehe an die Songs noch nicht mal hier im Podcast ran, ich habe da zu viel Respekt vor, aber die Jungs – gib ihm. Großartig. Und zwischen Songs dieser Kategorie kamen immer auch eigene Stücke. Oder, wie sie es ansagten: „Stücke von Freunden von uns“. Eines davon: „Nothing ever happens“ von Del Amitri.

Der Song kam auf Anhieb in meine Kategorie „Wichtig“. In der Schublade waren die Lieder, bei denen der Text, die Aussage, die Thematik, aber auch die Haltung und/oder Bedeutung der Band, der Einfluss auf die Musikgeschichte und viele, viele andere Faktoren zusammenkamen, um objektiv festzustellen: Dieser Song ist wichtig. Bob Dylans „Hurricane“ ist in der Kategorie, Tracy Chapmans „Revolution“. Die komplette Platte „Modern Times“ von Latin Quarter. Don Mc Leans „American Pie“. Sowas. Und halt „Nothing ever happens“.

Weil es da ab Strophe 1 um Dinge geht, die real sind, die man sehen und beobachten und vielleicht sogar fühlen kann. Justin Currie – das ist der Freund, der den Song geschrieben hat – zählt in den ersten Zeilen in der Reihenfolge auf: Postbeamte, die ein „Schalter geschlossen“-Schild aufstellen. Sekretärinnen, die ihre Schreibmaschine ausschalten und ihren Mantel anziehen. Und Junggesellen, die ihre Kumpels anrufen, um einen trinken zu gehen, während die Verheirateten eine Talkshow im Fernsehen einschalten. Und am Ende der Strophe steht die Feststellung:

And they’ll all be lonely tonight and lonely tomorrow

Und sie werden alle heute Abend einsam sein und morgen auch.

Strophe 2 löst sich dann von einzelnen Berufsbildern, jetzt geht es um die Sperrstunde in Kneipen und Ampeln, die auf Rot schalten, wenn es nichts gibt, was anhält oder überhaupt irgendwohin fährt. Und um 5 Uhr nachmittags ist nichts mehr los und die Menschen gehen ins Bett wie die betäubten Mäuse in Universität-Labors. Und dann der Refrain:

And nothing ever happens, nothing happens at all

The needle returns to the start of the song
And we all sing along like before

And we´ll all be lonely tonight and lonely tomorrow

Die Nadel des Plattenspielers geht zurück auf den Anfang, wir singen alle mit wie vorher und am Ende des Tages und am Tag darauf sind wir einsam.

Strophe 3 macht fröhlich da weiter, wo der Refrain aufhört: Telefone, die ein Klicken austauschen, wenn keiner drangeht. Die Marsmenschen könnten auf einem öffentlichen Parkplatz landen, es würde keinen interessieren. Und die Überwachungskameras in den Kaufhäusern drehen Tag für Tag den gleichen Film, dessen Hauptdarsteller:innen in einer immerwährenden Zeitlupe immer wiederkehren.

And nothing ever happens

Strophe 4 zieht es ein bisschen größer: Werbetafeln, die Produkte anpreisen, die keiner braucht. „Angry aus Manchester“ beklagt sich über all die Wiederholungen im Fernsehen. Computerterminals verzeichnen steigende Werte bei Kupfer und Zinn. Und Businessleute schnappen sich gegenseitig Van Goghs im Gegenwert eines Krankenhausflügels weg.

And nothing ever happens.

Was für ein Text, was für ein Song. Und das von der Straße, von befreundeten Musikern der beiden Straßenmusiker aus Manchester. Das war so authentisch und ging mitten in die offenen Ohren und Herzen von gerade so Erwachsenen. In der hessischen Landeshauptstadt, die sich damals recht klein anfühlen konnte. „Nothing ever happens“ war die Beschreibung eines Zustands, gegen den man als junger Mensch doch etwas tun musste. Ein Aufruf dazu, etwas zu unternehmen, irgendetwas mit dem eigenen Leben zu machen, dass eben doch etwas passiert und dass man am Ende des Tages und am Tag darauf eben nicht einsam ist.

So war das damals. Und heute? Heute haben wir das Internet und können mit zwei Klicks herausfinden, dass „Nothing ever happens“ am 1. Januar 1990 auf Platte erschien und der schottischen Band Del Amitri ihren zweitgrößten Hit bescherte: Nummer 11 in den UK Charts und sogar Nummer 4 in Irland! Das mit der Hitparade war tatsächlich, bevor wir den Song zum ersten Mal von den beiden britischen Straßenmusikern hörten. Ob es also wirklich ein „Song von Freunden von uns“ war oder nicht, ist letztlich aber egal. Daran, dass sich das damals so authentisch anfühlte, ändert das ja nichts. Überhaupt hat sich seitdem wenig geändert, was die beschriebenen Zustände anbelangt. Werbung für Produkte, die keiner braucht? Check. Tote Hose in Innenstädten ab ungefähr 17 Uhr? Check. Kunstwerke zum Preis von Krankenhausflügeln? Kurzer Preisvergleich: 2021 wurde bei Christie’s ein Van Gogh für 70 Mio. Dollar versteigert. Öffentliche Krankenhausträger rechnen – ganz grob – bei einem kompletten Krankenhausneubau (ohne Ausstattung) mit einer Investition von etwa 200.000 bis 250.000 EUR pro Krankenbett. Check, da stimmt die Relation „Kunstwerk gegen Krankenhausflügel“. Auch da ist nichts passiert. Nur die Kaufhauskameras, die werden demnächst alle abgebaut.

Wenn sich an den Zuständen aus dem Song seit damals nicht viel geändert hat, was ist mit dem jungen Erwachsenen von damals? Und mit dem R4? Mit Paris und der französischen Kneipe? Hmh. Die Menschen hinter der Kneipe sind viel zu früh gestorben. Die Kneipe hat irgendwann zugemacht und fehlt seitdem. Kleine Ironie des Schicksals: Heute wohne ich in Laufweite zu dem Keller und müsste nicht mehr fahren. Nach Paris bin ich inzwischen schon ein paar Mal gefahren und finde die Stadt immer noch magisch. Der R4 hat den zweiten unverschuldeten Crash nicht überstanden. Seitdem sind mir Autos egal. Und aus dem jungen Erwachsenen von damals ist ein deutlich älterer Erwachsener geworden. Und was ist mit dem Grundsätzlichen? Habe ich etwas dafür getan, dass nicht niemals nichts passiert und wir am Ende des Tages und am Tag darauf nicht einsam sind? Ja, habe ich. Einen Podcast zu „Nothing ever happens“. Mit den Erinnerungen an damals, die jemand so oder vielleicht so ähnlich teilt und dann gar nicht einsam und beim Erinnern dieser längst vergangenen Zeiten vielleicht sogar auch ein bisschen glücklich ist. Manchmal sind es die kleinen Dinge.

Heute geht es bei der unbedingten Musikempfehlung nicht um einen einzelnen Song, sondern um einen Musiker: Den unvergleichlichen Mark Gillespie. Aus der Gegend von Manchester. For old time´s sake und weil er ein großartiger Künstler ist – zum Reinhören in sein Werk ist hier seine akustische Version von „Chasing cars“.

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