Woche 5: Faith No More, Ashes to ashes

Ut omnes unum sint. Die empfangsbedürftige Willenserklärung. Von der Ablehnung über Toleranz zur Akkulturation.

„Fakten, Fakten, Fakten“ forderte einst Helmut Markwort in einem Fernsehwerbespot, die Älteren erinnern sich. Sowohl an Fernsehwerbespots als auch an Helmut Markwort. Und an dessen Nachrichtenmagazin „Focus“, heute immer noch das dritt-reichweitenstärkste Wochenmagazin der Republik. Hinter SPIEGEL und stern, um auch diese Namen mit größerer Vergangenheit als Gegenwart nochmal genannt zu haben. Denn was bedeutet Reichweite im Printbereich noch? Podcasts erreichen mittlerweile ein Vielfaches an Menschen im Vergleich zu gedruckten Wochenmagazinen und damit schließt sich dieser erste Kreis für heute: Auch dieser sympathische Nischenpodcast hat sich dem Grundsatz „Fakten, Fakten, Fakten“ verschrieben und liefert Ausgabe für Ausgabe Tatsachen, Informationen und Kontext. So weit, so grundsätzlich, so – allgemeingültig, das machen viele. Was macht diesen Podcast zu etwas Einzigartigem in der zunehmend fragmentierten Medienlandschaft, fragt man sich?  Es ist die Geschichte hinter der Information, die Stimme hinter den Lyrics, the Brain  hinter den Gedanken zu 52 Musikstücken. Kurz: Es ist der Mensch, der die die Menschen da draußen interessiert und wie er zu dem wurde, der er heute ist. Es ist deshalb Zeit für einen Blick auf – mich. Es beginnt mit einem Zitat von jemand anderem.

„Ut omnes unum sint“, „Dass alle eins seien“ ist der Wahlspruch der Johannes-Gutenberg-Universität Mainz. Ein Zitat aus dem Johannes-Evangelium. Ein Zitat aus dem Johannes-Evangelium für die Johannes-Gutenberg-Universität. Das ist ein hübsches Detail, war damals aber wohl nicht ausschlaggebend. Die Historiker sehen – nicht ganz widerspruchsfrei – in diesem Motto einen Wunsch zur Abkehr von „uniformierten Denkweisen in Gleichschaltung“ und eine Bündelung „bindende(r) Wertvorstellungen“, „denen des christlichen Abendlandes und der auf die Freiheit gegründeten Humanität.“ Die, die in den universitären Raum eintreten – und zwar alle – sollen eins werden in dieser Haltung.  O-kay, lasse ich mal so stehen. Der Wahlspruch prangte über dem Eingang zum Forum Universitatis, unter dem Turmbau und steht heute noch großflächig in der Alten Mensa. Und je nach Perspektive entweder vom Turm aus rechts unterhalb oder von der Alten Mensa aus schräg gegenüber, war seinerzeit das Studierendenbüro. Dort musste man sich einschreiben, wenn man studieren wollte. Ein langwieriger und vollständig analoger Prozess kafkaesken Ausmaßes, aber so war das eben früher.

Zu einem Wintersemester vor unerdenklich langer Zeit betrat ich das Studierendenbüro, um mich einzuschreiben. Ganz allein, ohne ein begleitendes Elternteil, denn wir waren damals bei Erreichen der Allgemeinen Hochschulreife schon volljährig. Dass wir mehr Ahnung von irgendetwas als junge oder jüngere Menschen heute hatten, will ich damit nicht sagen. Ich hatte nämlich keine Ahnung. Ich wusste nichts von einem Wahlspruch „Ut omnes unum sint“, zur Wiederbegründung der Universität 1946 eingeführt. Oder ob die JGU, meine Alma Mater, noch dieselbe Universität ist wie die Alte Mainzer Universität, die 1798 aufgelöst wurde. Keinen Schimmer davon, dass die sog. Kontinuitätsfrage bis heute offenbar nicht ganz geklärt ist. Jenseits dieser Details und eher insgesamt würde ich aus heutiger Sicht meine Vorstellungen von einem Universitäts-Studium euphemistisch mit „rudimentär“ beschreiben. Im Sinne von „unzureichend, unvollkommen“ oder „auch nur ansatzweise vorhanden“. Natürlich hatte ich im letzten Halbjahr der Oberprima – nein, die hieß auch damals schon „13. Klasse“ – also jedenfalls vor dem Abitur die gedruckten Studienführer gelesen und eine dieser Show-Vorlesungen  besucht. In der Erinnerung sowas wie eins dieser überteuerten Motivations-Seminare: Super Stimmung, eine Menge Aphorismen und am Schluss das Versprechen einer glänzenden Zukunft.  Jep. Da war ich dabei. Und wie!

Ungefähr so wie in der ersten Zeile des Songs „Ashes to ashes“ der kalifornischen Crossover-Band Faith no more:

I want them to know, it’s me
It’s on my head

Oder: Hoppla, hier komme ich! Mangelnder Vorbereitung begegnete ich als junger Mensch mit  Selbstvertrauen und der Überzeugung, dass wer will, auch kann. Meine optimistische Sicht der Welt fußte damals im Wesentlichen auf dem Umstand, dass ich ein durchaus vorzeigbares Abitur im Bildungsschwellenland Hessen ohne übermäßig große Anstrengung vollbracht hatte und es im Prinzip  von mir aus so weitergehen könnte. Da sprach nichts dagegen. Außerdem war ich ein mündiger Staatsbürger und in den Augen der Gesellschaft offensichtlich innerlich so weit gefestigt und gereift, dass ich mir meine Zeit und meine Inhalte frei einteilen konnte, um das anvisierte Ziel „Studienerfolg“ in vertretbarer Zeit zu erreichen. O goldene Zeit der akademischen Freiheit. Immer noch in der ersten Strophe:

I’ll point the finger at me
It’s on my head

Ich war jung. Ich war schön. Und ich war frei. Klar, noch zuhause gewohnt,  aber ich einen knallroten Renault 4. Ich war mobil, meine intellektuelle Leistungsfähigkeit war grenzenlos und mein Musikgeschmack treffend und unbestechlich. Es war alles da.

Aber der Songtitel für heute ist nicht zufällig ausgewählt: „Ashes to ashes“, Asche zu Asche, alles vergeht. Der knallrote R4 kollidierte zweimal unverschuldet mit anderen Verkehrsteilnehmern und war nicht mehr verkehrstüchtig. Die intellektuelle Hybris zerschellte am Allgemeinen Teil des Bürgerlichen Gesetzbuches. Die verschiedenen Formen der Willenserklärung – einseitig, mehrseitig, empfangsbedürftig. Deren objektiver und subjektiver Tatbestand. Ihre Abgrenzung von der geschäftsähnlichen Handlung. Das und noch vieles mehr boten sehr rasch einen Ausblick auf das zu bewältigende Pensum und die Lebensfreude, die dabei aufkommt. Dicht gefolgt von der Erkenntnis, dass ein Viel an Pensum ein Wenig an Freude bedeuten könnte. Und dann aber: Die akademische Freiheit bietet die Möglichkeit, die Balance zwischen viel Arbeit und wenig Spaß selbständig zu gestalten. Und es waren die Neunziger und es kam der Aufstieg der Spaßgesellschaft.  Die Rechnung ist schnell gemacht. Aus der heutigen ex post-Perspektive kann ich ihn positiv bewerten. Diesen vorübergehenden Verzicht auf akademische Höchstleistungen zugunsten vielfältiger Lebenserfahrungen. Vor kurzem habe ich mich aber in irgendeiner nächtlichen REM-Phase – also beim Schlafen, nicht bei der Band – in einer Klausur im Studium wiedergefunden und es war kein gutes Gefühl. Vielleicht würde ich es heute anders machen.

Und der Musikgeschmack? Der wurde zeitgleich zu all diesen lebensverändernden Vorgängen mit so viel Neuem konfrontiert. Vorbei die Zeit des musikalisch eher uniformen Eurodance mit Tracks wie „Rhythm is a dancer“, „What is love“ und „Mr. Vain“. Vorbei auch die Zeit der Tapes im Kassettdeck des Autoradios in meinem R4:  „People are strange“ von den Doors, „The Dark Side of the Moon“ und „Wish you were here“ von Pink Floyd auf einer 90er Kassette, die Live-Alben von Bruce Springsteen auf zwei 90er Kassetten, diverse Mixtapes mit völlig abstrusen Zusammenstellungen. Vorbei die Zeit des Besten der 60er, 70er, 80er und bloß nicht von heute, denn das waren die Radio-Hits der 90er. Das universitäre Umfeld und die Zeit gingen völlig neue Richtungen. Crossover, Nu Metal, Grunge. Oder: Rage against the machine. Pearl Jam. Und eben Faith No More.

Im Gegensatz zum Mainstream der 90er kriegte man da Texte vorgesetzt, mit denen man sich auseinandersetzen kann:

Smiling with the mouth of the ocean
And I’ll wave to you with the arms of the mountain

Mit dem Textverständnis tat ich mir in der Folgezeit schwer. Sowohl bei den Lehrbüchern zum Allgemeinen Teil des Bürgerlichen Gesetzbuchs als auch bei den Lyrics von Faith no more verstand ich nicht viel. An den Texten auch nicht viel zu verstehen ist. Die einen kloppt man sich in den Kopf – so geschehen bei den Lehrbüchern. Oder man stellt fest, dass sie einfach verquast sind,  wie eben bei „Ashes to ashes“. Von dem Text sagt sogar Mike Patton und der ist der Texter und Sänger von Faith no more und hat den Song also geschrieben und gesungen – jedenfalls sagt er, er stehe mehr so auf den Klang der Worte im Text als auf deren Inhalt. O-kay, da ist verständnismäßig nichts zu wollen. Da kann man  auch „mit dem Mund des Ozeans lächeln“? Oder „Dir mit dem Arm des Berges winken“.

Weiter im Text:

Give the same to me, then I’ll be closer

Frei übersetzt: Gib mir mehr davon, dann komme ich dem Ganzen näher. Im Kontext hier: Immer weiter hören, dann magst Du es irgendwann auch, egal ob Du es verstehst oder nicht.  So ging’s mir. Nach der anfänglich ablehnenden Haltung infolge Unverständnis führte eine permanente Steigerung der Dosis auf Uni-Feten, sonstigen Parties und eine damit verbundene positive Verstärkung erst zur Toleranz und dann über die Akzeptanz hin zur Akkulturation. Neues Wort für mich, bedeutet „Übernahme von Elementen einer fremden Kultur durch den Einzelnen“. Erst war mir Faith no more fremd, dann habe ich ihre sämtlichen Studioalben aus den Neunzigern als Compact Disc erworben und höre sie bis heute. Genauso wie Pearl Jam und all die anderen. Außer Nirvana, aber das ist eine andere Geschichte. Die Geschichte heute war unter anderem die von dem Musikgeschmack, der sich seit damals ständig erweitert. Ende gut, alles gut. Das gilt auch für Universitätsstudien, die mit einem Defizit an Durchblick einst begonnen wurden.

Bei der Aufzählung der Platten, die Anfang der Neunziger bei mir rauf und runterliefen, habe ich vorhin eine ausgelassen: Das Album „Get a grip“ von Aerosmith. Aus ganz vielen Gründen ist die Unbedingte Hörempfehlung für heute Track 5 auf der CD: „Livin‘ on the edge„. Bis zur nächsten Folge.

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