Woche 7: Ernst Neger, Heile heile Gänsje

„In hunnert Jahr is alles weg.“ Art. 29 des Grundgesetzes. Ein schnelles Ende.

Ich war ja als Kind öfter bei meiner Oma. Warum und wieso ist hier nicht weiter von Belang. Es geht nur um den Umstand, dass ich häufiger bei ihr war und ab und zu auch mal hingefallen bin. Oder was man als Kleinkind oder Kind halt so macht und sich dabei weh tut. Und wenn ich mir  in der Obhut meiner Oma wehgetan hatte, sagte sie mir den Kinderreim vom „Heile Gänsje“ auf. Der geht so:

Heile, heile Gänsje, es is bald widder gut. Es Kätzje hot e Schwänzje, es is bald wieder gut.
Heile, heile Mausespeck, in hunnert Jahr is alles weg!

Wenn ich das aus heutiger Sicht betrachte: Mir hat das als Kind damals immer geholfen. In dem Moment sowieso und auch danach, in der noch kindlichen Retrospektive. Denn: Meine Oma hat Wort gehalten. Die aufgeschlagenen Knie, der Schnitt in den Finger – „alles weg“ und das schon deutlich vor Ablauf der „hunnert Jahr“. Und weil es bei meiner Oma funktioniert hat und ich beim „Heile heile Mausespeck“ an sie und an verheilte Verletzungen und an gehaltene Versprechen denke, hat auch das Lied „Heile heile Gänse“ etwas Tröstliches für mich. Über die Fassenacht hinaus.

Denn – der guten Ordnung halber sei das erwähnt – das „Heile Gänsje“ ist ein Fassenachtslied. Der Mainzer Weinhändler und Likörfabrikant Martin Johann Mundo dichtete das Lied mit dem alten Kinderreim als Refrain im Jahr 1929. 1929 war Ernst Neger noch in der Dachdeckerausbildung. Mehr als zwanzig Jahre später fanden der singende Dachdecker – inzwischen Meister –  Ernst Neger und das „Heile Gänsje“ zusammen: 1952 trug Neger das Lied  in der Meenzer Fassenacht vor und beide – Lied und Interpret – wurden zur Legende. Auch, weil wenig später das neue Medium Fernsehen die Fassenacht entdeckte. Seit 1955 wurde die Gemeinschaftssitzung des Mainzer Carneval-Vereins (MCV) und des Mainzer Carneval Clubs (MCC) unter dem Motto „Mainz wie es singt und lacht“ vom Südwestfunk übertragen. Und Ernst Neger war der große Star der frühen Fernsehfassenacht. Sein Auftritt am 5. Februar 1964 ist in mehrerer Hinsicht denkwürdig: Es war die Uraufführung des Humba Täterä, die vorgesehene Sendedauer wurde um eine ganze Stunde überzogen, weil das Publikum im Saal sich nicht mehr einkriegte, und das Ganze hatte dann auch noch mit 89% die höchste jemals gemessene Einschaltquote im deutschen Fernsehen.

Solche Quoten wünschten sich schon damals auch noch andere Fernsehmacher und so kam es zu einer interessanten Dopplung von Mainzer Fernsehsitzungen zwischen 1965 und 1972. Das kesse, frische Zweite Deutsche Fernsehen, erst seit 1963 auf Sendung, hatte das Erfolgsformat kopiert und machte dem Südwestfunk arge Konkurrenz mit der Sendung „Mainz bleibt Mainz“. Zwei Mainzer Sitzungen im Fernsehen war aber auch für damalige Zeiten ein bisschen viel. Also einigten sich die Sendeanstalten und seitdem teilen sich der SWR und das ZDF die Übertragung der schönsten Fernsehsitzung der Welt mit dem salomonischen Titel „Mainz bleibt Mainz, wie es singt und lacht“, der gemeinsamen Fassenachtssitzung vom Mainzer Carneval-Verein (MCV), dem Mainzer Carneval Club (MCC), dem Gonsenheimer Carneval-Verein (GCV) und dem Karneval-Club Kastel (KCK), aus dem Großen Saal des Kurfürstlichen Schlosses zu Mainz. Der eine Sender überträgt in einem Jahr, der andere im nächsten und so geht das seit fünfzig Jahren. Die Quoten sind aber längst nicht mehr dieselben.

Es sind halt andere Zeiten. Auch das „Heile Gänsje“ hat bewegte Zeiten hinter sich. 1929 gab es beim da capo noch eine Strophe von Mundo, die sich mit der damaligen französischen Besatzung befasste. Beim ersten Vortrag des „Heile Gänsje“  von Ernst Neger 1952 hatte die Fassenacht reagiert und dem Lied zwei Strophen hinzugefügt. Eine davon geht so:

Wenn ich mir so mei Meenz betracht, dann denk ich in mei’m Sinn:
Mer hat’s mit Meenz genau gemacht wie mit der Stadt Berlin.
Man hat’s zerstört, hat’s zweigeteilt. Und trotzdem hab ich Mut,
zu glaawe, des des alles heilt. Aach des werd widder gut.

Wie beim aufgeschlagenen Knie brauchte es für eine Heilung keine „hunnert Jahr“. Jedenfalls was Berlin betrifft. Die Stadt ist nicht mehr geteilt und so ist Mainz allein mit seinem Schicksal. 1945 wurden die rechtsrheinischen Vororte Amöneburg, Kastel und Kostheim von den Amerikanern nach Wiesbaden eingegliedert. Es blieb der Name: Die Wiesbadener Vororte heißen bis heute nach der alten Mutterstadt Mainz-Amöneburg, Mainz-Kastel und Mainz-Kostheim. Seltsam, aber es geht noch seltsamer: Postalisch werden Mainz-Kastel und Mainz-Kostheim über das Briefzentrum 55 in Mainz-Hechtsheim versorgt und haben „Mainzer“ Postleitzahlen. Die postalische Bedienung von Mainz-Amöneburg erfolgt über das Briefzentrum 65 für Wiesbaden und das liegt – Achtung – in Mainz-Kastel. Sinn macht das nicht. Auch nicht,  dass es von Kostheim bis in die Wiesbadener Innenstadt rund 10 Kilometer sind. Um in die Mainzer Innenstadt zu gelangen, muss man nur über den Rhein.

Aber damit auch über die Landesgrenze zwischen Hessen und Rheinland-Pfalz, established 1946. Und das ist ein Problem: Würde man AKK – so heißen die drei Vororte abgekürzt – wieder nach Mainz holen, würde sich die Grenze der Bundesländer Rheinland-Pfalz und Hessen verschieben. Das bedarf – wer wüsste es nicht? – nach Art. 29 Absatz 7 des Grundgesetzes eines Staatsvertrags zwischen den beiden Ländern. Und daran hatte Hessen offenbar in all den Jahren seit 1946 kein Interesse. Was auch daran liegen könnte, dass zwei recht große Industriegebiete samt der anfallenden Gewerbesteuern in Amöneburg und Kastel liegen. Ob das eine Rolle spielt, weiß ich aber nicht.

Es ist trotz allem lustigen Hin und Her in der Fassenacht und in der Kommunalpolitik ein ernstes Thema. Und auch das „Heile Gänsje“ wird ernst. Die zweite Strophe von 1952 ging so:

Wär ich einmal der Herrgott heut, dann wüßte ich nur eens:
Ich nähm‘ in meine Arme weit mein arm‘, zertrümmert Meenz
Und streichelte es sanft und lind und sagt: „Hab nur Geduld.
Ich bau dich wieder auf geschwind, Du warst ja gar nicht schuld.

Das „arm, zertrümmert Meenz“. In einem letzten schweren Luftangriff am 27. Februar 1945 starben Hunderte von Menschen. 80% des Goldenen Mainz gingen für immer verloren. Dieser Tag ist 78 Jahre her. Und auch wenn damit fast schon „hunnert Jahr“ vorbei sind – man sieht es noch heute, es ist nicht weg und da hilft auch das „Heile Gänsje“ nicht. Und weil wieder und immer noch Krieg in Europa ist und weil ich was das betrifft rat- und sprachlos bin, geht diese Podcast-Folge so zu Ende. Ganz anders als gedacht und ganz anders als sonst. Wenn „in hunnert Jahr“ oder auch schon vorher „alles weg“ ist, dann sage ich bestimmt was zu dem, was mir noch eingefallen ist zum „Heile Gänsje“ und dass es viel mehr ist als ein Fassenachtslied und dass man es auch aus anderer als der kindlichen Perspektive sehen muss. Aber heute, heute kommt nur noch das Lied.

In der Fassenacht und darüber hinaus wird die Stadt Mainz  immer wieder besungen, mal besinnlich, mal beschwingt, mal originell, mal weniger. Nicht so oft wie Köln, aber öfter als Wiesbaden in jedem Fall, Vororte mit eingerechnet. Es gibt für mich keine schönere musikalische Hommage an meine Geburtsstadt Mainz als das Lied Mainz von Lars Reichow. Meine unbedingte Hörempfehlung. Der singende Dachdeckermeister Ernst Neger kommt auch darin vor. Bis zum nächsten Mal.

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