Woche 8: The Sisters of Mercy, Under the gun

Es war einmal im Wilden Westen. Ein Drumcomputer ist auch nur ein Mensch. Und Trockeneis ist festes Kohlenstoffdioxid.

Vier Menschen auf zwei Pferden reiten durch das Dorf. Wir sind in einem entlegenen Teil des  Wilden Westens. Die Siedler haben erst vor kurzem hier ein paar Häuser errichtet. Lebensspendendes Wasser gibt es nur an einer nahen Quelle. Dicht stehen die Bäume um das kleine Dorf. Die Wipfel wiegen sich im Wind. Malerisch geht die Sonne über der Bergkette unter. Ein herrliches Stück Natur. Aber voller Mühsal und Entbehrung. Das harte Tagwerk, die Knochenarbeit, mit der die Menschen sich jede Parzelle, jeden Quadratmeter erkämpfen, ertrotzen, erarbeiten müssen. Mit Barmherzigkeit, mit Gnade ist hier nicht zu rechnen. Was für ein Kontrast, wenn sich die sanfte Stimme Leonard Cohens sphärisch über die Szenerie legt:

Oh The Sisters of Mercy, they are not departed or gone.

They were waiting for me when I thought that I just can′t go on

Als Andrew Taylor und Mark Pearman diese Szene in Robert Altmans Anti-Western „McCabe und Mrs. Miller“ sehen, finden sie den Namen für ihr Bandprojekt: The Sisters Of Mercy, nach dem gleichnamigen Song von Leonard Cohen. Das ist die eine Wahrheit, offiziell verbreitet unter anderem von den Sisters Of Mercy. Es gibt aber eine alternative Wahrheit: Das Gute Werk der religiösen und karitativen Organisationen der Barmherzigen Schwestern war für Taylor und Pearman ein Leitstern. Sie benannten ihre Band nach diesen „Sisters Of Mercy“. Die „Barmherzigen Schwestern“ sind Ordensgemeinschaften, in denen katholische Frauen Menschen unterstützen, die an Armut, Krankheit und mangelnder Bildung leiden. Die Schwestern engagieren sich unter anderem in der Krankenpflege, im Gemeindedienst und auch in der Politik. Bildung und Politik waren den Gründungsmitgliedern der Sisters Of Mercy wichtig. Der eine, Mark Pearman, hatte „Das Kapital“ gelesen und nannte sich fortan „Gary Marx“. Der zweite, Andrew Taylor, hatte auch ein Buch gelesen: Den Science-Fiction-Roman  „Die drei Stigmata des Palmer Eldritch“ von Philip Dick. Den Namen der Romanfigur übernahm Andrew und seitdem heißt er Andrew Eldritch. Im Englischen bedeutet „eldritch“ so was wie „schauerlich, unheimlich“ und das erklärt so einiges. Genauso wie der Umstand, dass das Buch von Philip Dick in Deutschland unter dem Titel „LSD-Astronauten“ verlegt wurde. Hey, es war Anfang der 80er und da ging es halt ab.

Der Text von „Under the gun“ beschreibt das so:

Explosive bolts, 10.000 volts

At a million miles an hour

Läuft. Noch nicht sofort, aber die Geschichte der Sisters hatte begonnen. Schon damals mit ihrem ganz eigenen Sound veröffentlichen sie zum Beispiel eine Cover-Version von Dolly Partons „Jolene“ und andere Merkwürdigkeiten. Lokale DJs hören ihre Tracks, sie kommen damit ins Radio und erreichen so ihr ursprüngliches Ziel – mal ins Radio zu kommen. Es gibt eine erste Platte, es gibt eine exzellente zweite Platte und auf einmal waren die Sisters Of Mercy groß. Ganz groß. Keine Frage, wer kennt die Sisters Of Mercy nicht? Schon, oder? Die Sister Of Mercy? O-kay, wie heißt es schon in „Under the gun“:

Do you feel your head is full of thunder

Questions never end

Wenn die Fragen nie enden, müssen wir vielleicht zurück in der Zeit…

Wer waren die Sisters damals? Das waren die schon erwähnten Gary Marx an der Gitarre und Andrew Eldritch an den Drums. Die Drums spielte Eldritch in solcher Vollendung, dass er schon sehr bald durch einen Drumcomputer ersetzt wurde. Eldritchs Aufgaben beschränkten sich fortan auf Singen, Texten und Drumcomputer-Programmieren.

Mit dem Erfolg, das war „Temple of Love“, kamen die Streitigkeiten und eine Menge neuer Bandmitglieder. Es waren ziemlich viele und die meisten waren nicht lang dabei. Deswegen die naheliegende zweite Frage: Wer sind „die Sisters“ heute? Gary Marx die Ur-Sister stieg schon 1985 aus den Sisters aus und wurde später Dozent am Paul McCartney Liverpool Institute for Performing Arts. Wer bei den Sisters blieb, war der Drumcomputer. Der hatte schon früh den Namen „Doktor Avalanche“ bekommen und existiert seitdem in immer neuen technisch upgedateten Versionen. Immer unter demselben Namen. Deshalb wird er  auch völlig zu Recht [in der Besetzungsübersicht] als permanentes Mitglied aufgeführt. Inzwischen ist er so weit, technisch und vom Standing in der Band her, dass er die Zuschriften der Fans in seiner eigenen Kolumne beantwortet. Künstliche Intelligenz lässt grüßen. Ich stelle ihn mir heute wie Professor Simon Wright vor, das fliegende Gehirn aus Captain Future. So in etwa. Fest steht: Doktor Avalanche ist der Einzige neben Andrew Eldritch, der noch übrig ist. Und zwar nicht nur von der Urbesetzung, sondern überhaupt von irgendeiner Besetzung. Die Sisters Of Mercy sind heute Andrew Eldritch und er hat seinen Drumcomputer immer dabei. 

Zurück zu „Under the gun“:

I put my finger on and dialled
The tower, the moon, the gun and
Nine nine nine, singer down

Das meiste an der Zeile entzieht sich jedem Interpretationsversuch, aber eine Frage habe ich: Was bedeutet hier „Singer down“? Wenn es „Jetzt ist auch der Sänger raus“ heißt, ist Doktor Avalanche ganz allein.  Hartes Los für einen Drumcomputer, aber Künstliche Intelligenz macht ja jetzt auch schon alleine Musik. Anderer Ansatz: „Singer down“ könnte auch bedeuten, dass Andrew Eldritch „down“ ist. Also niedergeschlagen, nicht so gut drauf. Das ist möglicherweise schon eine ganze Weile so, denn wenn man sich das erste Studioalbum „First and last and always“ von vor fast 40 Jahren anhört – uiuiui, da gibt es ganze Text- und Liedpassagen, die sich nicht uneingeschränkt lebensbejahend anhören. Da kommt schon mal so was wie 

See a body and a dream of the dead days

Puh. Das ist die erste Zeile des Songs „First and last and always“ und auf der ganzen Platte wird es stimmungsmäßig nicht besser. Für das Branchenmagazin laut.de ist es trotzdem oder gerade deswegen „ein Meilenstein des Indie-Rock“. Auch wenn die Sisters da schon einen Vertrag mit einem großen Label hatten und so richtig „Indie“ gar nicht waren. Mit dem zweiten Longplayer  Floodland hatte es sich dann endgültig mit Indie, denn erstens waren die Sisters damit kommerziell sehr erfolgreich und zweitens wurde das Album von einem gewissen Jim Steinman produziert. Jim Steinman ist doch der… – richtig, der Produzent von „Indie-Ikonen“ wie Meat Loaf und Bonnie Tyler. Und wer genau hinhört, der merkt, dass  1959 von den Sisters und Bonnie Tyler Mega-Hit Total eclipse of the heart fast derselbe Song sind. Unverkennbar.

Noch eine Parallele zwischen Bonnie Tyler und den Sisters: Der unverhältnismäßige Gebrauch von Trockeneis. In Musikvideos und bei Liveauftritten. Das wabert optisch so schön. Und weil es nichts anderes ist als festes CO2, passiert noch was: Atmet man die entstehenden Dämpfe ein, dann„kribbelt“ es. Chemie sei dank, da sich bei Kontakt mit dem Wasser der Schleimhäute Kohlensäure bildet. Aber weder Wabern noch Kribbeln lenken davon ab, dass die Sisters schon seit sehr langem harsche Kritik für ihre Live-Auftritte erfahren.  Die absolviert Eldritch mit mäßigem Engagement, eher genuschelten Interpretationen seiner Kompositionen und ganz schlimmen Cover-Versionen.  

Im Studio aber klingt das ganz anders. Da arbeitet Andrew Eldritch immer mit ganz großartigen Sängerinnen. Das war schon beim Remake von „Temple of Love“so, da kam Ofra Haza dazu. Und als es an die Aufnahmen für „Under the gun“ ging, das extra für eine zweite „Greatest Hits“-Compilation produziert wurde, da kam – tja wer? Wer ist die Frau, die bei „Under the gun“ mitsingt? Es ist – Terri Nunn. Wahnsinn, oder? Das kannst Du Dir nicht ausdenken: Die Gastsängerin bei einem Song der Barmherzigen Schwestern heißt mit Nachnamen“nun“, also Nonne. Das beweist die hier vertretene Theorie zur Namensgebung der Sisters, nach katholischen Ordenskongregationen. Und es ist der Beweis, dass es sie gibt – die ganz großen Zusammenhänge, die man nicht erkennt, wenn man nicht ganz genau hinschaut. Und wenn man es sieht, ist das atemberaubend. Denn hier enden die „Zufälle“ ja nicht. Stichwort “ atemberaubend“: Terri Nunn wurde berühmt als Sängerin der Band „Berlin“ und deren bekanntester Song war „Take my breath away“. Und das war der Hit aus dem ersten Teil von TOP GUN. TOP GUN – „Under the gun“, da schließt sich doch der Kreis!

In einem Kreis gibt es kein Vorne und kein Hinten, kein Erstes und kein Letztes. Wie in den Lyrics von „Under the gun“:

The first are last
The best is yet to come

Das Beste kommt also noch. Möglich ist es: Die Sisters – also Andrew und sein Drumcomputer – sind auch in diesem Jahr auf Tour und vielleicht kommt irgendwann auch das lang ersehnte vierte Studioalbum. Sie sind also noch da. Ganz nach der Vorgabe von Leonard Cohen und dem Song, der ganz am Anfang stand:

Oh The Sisters of Mercy, they are not departed or gone. 

Hier sind die Sisters Of Mercy zusammen mit Terri Nunn aus dem Jahr 1993 – „Under the gun„.

[Es war nicht leicht, heute allen zwingenden unbedingten Hörempfehlungen auszuweichen. Aber ich habe es geschafft: Hier kommt keine Empfehlung für Paul McCartney, Berlin, Jim Steinman, Meat Loaf, Bonnie Tyler oder Leonard Cohen. Der Link ist heute ganz versteckt: In der ersten Hälfte ist die Rede von „Captain Future“, der Anime-Serie aus den späten Siebzigern. In Deutschland lief sie im Zweiten Deutschen Fernsehen, allerdings in einer fürchterlich zusammengeschnittenen Fassung . Aber mit dem großartigen, von Christian Bruhn komponierten Soundtrack. Daraus die Unbedingte Hörempfehlung – das Main Theme. Bis zum nächsten Mal!]

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